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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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stellte sich vor, sein verlorenes Auge sei einfach umgedreht worden, schaue nun nach innen und erkläre die Stimmen. Und seit seiner schweren Verwundung gewährten die Stimmen ihm die Erlaubnis, genau die Art von Vergeltung zu üben, von der er nur hatte träumen können: neun Morde in drei Jahren, mit denen kein Mensch ihn je in Verbindung bringen würde.
    Mit seiner Pension brauchte er kein Geld zu verdienen, und so widmete Dante sich dem, was die Gentlemen-Jäger in der Prärie als ›Jagdfieber‹ bezeichnet hatten. Er hatte als Büffel-Scout gearbeitet, bevor er zur Army gegangen war, und er hatte nichts als Verachtung für die reichen Müßiggänger aus dem Osten empfunden, die da aus hundert Yards Entfernung auf reglose Bullen feuerten. Sie unterlagen einem großen Irrtum: Das Fieber lag in der Jagd aus nächster Nähe, in der Arbeit mit den bloßen Händen, das hatte er herausgefunden. Sorgfältig, gründlich, berechnend. Es machte ihm Spaß, seinen Ladys den Green River zu zeigen und sie dann hinzuführen, langsam und gemächlich, und unterwegs ihre Angst zu verschlingen.
    Und die da war Indianerin. Das war Sauce zu seinem Braten.
    Diese Squaw wußte nicht, wo sie hinwollte, das war klar, und sie kannte Chicago nicht – schaute nach den Straßenschildern, wanderte ziellos umher. Ihn kümmerte es nicht, was sie allein hier machte; solche Gedanken verwandelten sie in Menschen und vertrieben den Zauber. Ihre Familie dürfte in der Reservation sein, wo sie hingehörte: Das hier war eine Ausreißerin, und so verspürte Dante keinen Drang zur Eile. Bei erstklassigem Fleisch ließ er sich gern Zeit. Einmal war er einer Frau halb nach Springfield gefolgt, hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten und auf den rechten Augenblick zum Handeln gewartet. Das machte sein Werben so spannend; es konnte Tage oder auch Wochen dauern, bevor sich eine Gelegenheit bot. Aber wenn er erst eine im Visier hatte, ließ er sie nicht mehr davonkommen, bis die Arbeit erledigt war.
    Sie ging die Treppe zu einer Pension in der Division Street hinauf, die er kannte – Nur für Damen, Vermietung wochenweise. Gut: Sie hatte also vor, eine Weile zu bleiben. Dante hatte das schon so oft gesehen: Frau kommt in die Stadt, sucht sich einen miesen Job, Kellnerin vielleicht, oder Näherin in einem Ausbeuterladen. Die Zeit vergeht, und die Arbeit schleift sie zu einem dieser namenlosen, gesichtslosen Körper zurecht, die kein Mensch bemerkt, wenn er auf der Straße an ihnen vorübergeht. Stapft jeden Abend allein zurück auf ihr Zimmer. Müde bis auf die Knochen, und das gute Aussehen geht schnell zum Teufel. Nimmt ihre Mahlzeiten mit anderen schmalgesichtigen Frauen in der Pension ein. Er konnte sie sehen, steif und adrett im Speiseraum hinter den Gardinen aus irischer Spitze. Vielleicht findet sie eine Freundin unter ihnen, und dann reden sie ohne viel Hoffnung davon, eines Tages einem Mann zu begegnen, einem Kerl, der sie nicht allzu schlecht behandeln und ihnen irgendein Leben bieten würde. Rauchen Zigaretten hinten auf der Veranda, und ihr Atem dampft in der kühlen Abendluft. Waschen sich im Gemeinschaftsbad am Ende des Korridors, ziehen niemals alle ihre Kleider aus. Schlafen dann mit ihren mageren Träumen.
    Frauen wie leere Tassen. Treiben durchs Leben und warten, daß etwas passiert. Und jetzt war er da, und das Warten war vorbei: Ihr Leben würde einen Sinn bekommen.
    Sie würde den Green River sehen.
    Da war sie, im Fenster. Erster Stock, hinten. Recht so, sie richtet sich ein. Die Stimmen sagten ihm, er könne jetzt beruhigt fortgehen. Er wußte, wo sie zu finden war.
    Dante Scruggs konzentrierte sich so sehr auf die Indianerin, daß er nicht merkte, wie jemand ihm folgte und ihn beobachtete. Ein dunkler, stiller Mann mit einer auffälligen Tätowierung – einem vom Blitz durchbohrten Kreis – in der linken Armbeuge. Er wartete, bis Dante an ihm vorübergegangen war, dann folgte er ihm langsam, verschmolzen mit dem Strom der Fußgänger.
     
     
    YUMA, ARIZONA TERRITORY
    Niemand im Lager der Tramps konnte sich erinnern, je einen Chinamann auf der Walze gesehen zu haben, und auf die philosophische Art, wie sie diesen Königen der Landstraße zu eigen ist, betrachteten sie dies als ein untrügliches Merkmal schlechter Zeiten. Ihre Abneigung gegen die Doppelsucht des Kapitalismus – die Sucht nach Arbeit und nach Geld – hatte die beharrliche Neugier auf die größeren Zusammenhänge in der Welt nicht aus ihren Köpfen vertreiben

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