Im Zeichen der Sechs
können; tatsächlich hatten sie in ihrer Untätigkeit sogar um so mehr Zeit, die conditio humana ins Auge zu fassen. Die Hobos hatten das Ohr auf den Gleisen der gesellschaftlichen Veränderung; an jeder Station ihrer Reisestrecke gab es Leute, die es sich nicht nehmen ließen, weggeworfene Zeitungen zu lesen und die offenkundigen Fehler des Menschen zu erörtern wie mißbilligende Archäologen. Diese Hobos wußten besser als die meisten braven Bürger, daß im letzten Jahr in Amerika sechshundert Banken pleite gegangen, zweihundert Eisenbahnlinien bankrott und über zweieinhalb Millionen Menschen arbeitslos waren; solche Zahlen brachten respektable Leute auf die Straße, die ihnen dann die Camps verstopften und das Leben für die professionellen Vagabunden dornenreicher werden ließen. Männer mit traurigen Gesichtern, die herumnölten und von ihren Eheproblemen sabbelten, oder wie sie ihren Job vermißten. Selbstmitleidiges Gequake von dieser Sorte konnte einem ordentlichen Hobo den Magen umdrehen.
Die Tramps wußten auch, daß die Chinesen auf ihre Familien schworen; sie kümmerten sich um die Ihren und blieben für sich, wenn die Lage mies war. Wenn also ein Chinamann auftauchte, der auf den Güterzügen fuhr, dann konnte man das als Neuigkeit betrachten. Slocum Haney sagte, er sei in Sacramento aufgesprungen, und da habe dieser Chinese schon im Waggon gehockt. Sagte kein Wort von da bis Yuma, nicht mal, wenn man ihn anredete. Hatte ihn weder schlafen noch essen sehen; saß einfach da in der Ecke, wachsam wie eine Katze. Haney wußte nicht mal, ob er Englisch verstand oder nicht. Machte einem irgendwie Gänsehaut, der Mann, auch jetzt, wie er so allein da draußen am Rande des Kreises um das Feuer saß.
»Rede du mal mit ihm«, sagte Slocum Haney. »Du hast doch schon mal mit Chinesen gearbeitet.«
Denver Bob Hobbes genoß uneingeschränkten Respekt bei seinesgleichen, sowohl wegen seines langen Lebens auf der Walze als auch wegen seiner Gewohnheit, nicht um den heißen Brei zu reden; in der egalitären Welt der Hobos hatte er die inoffizielle Position des elder statesman emeritus inne. Er hatte mal gearbeitet, war mit den Gleisbauarbeitern der Transkontinentalbahn von Ohio her in den Westen gekommen, damals in den Sechzigern, und eines Morgens vor zwanzig Jahren, bei der Kartoffelernte in Pocatello, Idaho, hatte er eine Erleuchtung gehabt und gelobt, niemals wieder einen einzigen Handschlag für den Profit eines anderen Mannes zu tun.
Denver Bob hatte dieses Gelübde gehalten und sich durch eifriges Studium zu einer Autorität in Fragen der ökonomischen Ausbeutung der Werktätigen herangebildet. Im Jahr ’93 war er mit Kellys Industrial Army nach Washington marschiert, um gegen die Lage der Industriearbeiter zu protestieren – und weil es nichts Besseres als politische Demonstrationen gab, wenn es um Gratisessen und angenehme Gesellschaft ging. Bob behauptete, er sei einmal Walt Whitman begegnet; er schleppte stets eine eselsohrige Ausgabe der Grashalme mit sich herum und konnte einem wildfremden Menschen Vorträge über die Vornehmheit der Armut und des Lebens auf der Landstraße halten, bis aller Sauerstoff in der Umgebung aufgebraucht war. Und wenn die Anwesenheit dieses Chinamannes die Harmonie im Camp durcheinanderbrachte, dann betrachtete Denver Bob es als seine persönliche Aufgabe, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
»Solche kalten Nächte gibt’s hier in der Wüste im Oktober schon manchmal«, sagte er und ließ seinen feisten Hintern neben dem Chinamann auf eine leere Kupferdrahttrommel sinken. »Die meisten ziehen um diese Jahreszeit in Richtung Kalifornien, aber mir scheint, du kommst da gerade her.«
Er bot dem Mann einen Schluck von dem Selbstgebrannten Rosinenschnaps an, den sie am Abend zuvor gemacht hatten. Der Mann schüttelte den Kopf und blickte weiter geradeaus. Denver Bob war es nicht gewöhnt, daß jemand seine Großzügigkeit zurückwies – er war massig und rund, und mit seinem dicken weißen Bart und den roten Apfelbäckchen sah er aus wie der Weihnachtsmann –, aber es brachte ihn nicht aus der Fassung. Nicht viel vermochte dies.
»Das Camp besteht jetzt seit zehn Jahren, seit sie die Strecke von Los Angeles in Betrieb genommen haben. Hunderte von Leuten kommen jede Saison durch diesen Rangierbahnhof.« Das Hüttencamp lag am Rande des Rangiergeländes von Yuma, der großen Schnittstelle zwischen Los Angeles und dem Arizona Territory am Ufer des Colorado. »Sprichst du
Weitere Kostenlose Bücher