Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
hatten, sondern eher als Ungeziefer, Insekten oder Ratten, als etwas, das so schnell wie möglich ausgemerzt werden musste.
Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab. Der Morgen war nicht gerade warm, Temperaturen um zwölf Grad , dachte Jack, doch seine Haut fühlte sich viel kälter an. Der Hubschrauber setzte sanft auf, und der Sergeant öffnete die Tür. Der Präsident betrat den Landeplatz, der erst kürzlich für eben diesen Zweck angelegt worden war. Ein Beamter der polnischen Regierung kam auf ihn zu, schüttelte seine Hand und stellte sich vor, doch Ryan hörte gar nicht hin. Plötzlich fühlte er sich wie ein Tourist in der Hölle. Der Beamte, der ihr Führer sein würde, geleitete sie zu einem Wagen. Jack setzte sich neben seine Frau.
»Jack ...«, flüsterte sie.
»Ja«, erwiderte er. »Ja, Liebling, ich weiß.« Danach sagte er kein Wort mehr. Der sorgfältig ausgearbeitete Vortrag des Polen ging völlig an ihm vorbei.
ARBEIT MACHT FREI stand auf dem schmiedeeisernen Tor, wohl das zynischste Motto, das kranke Gehirne je ersonnen hatten. Und diese Männer hatten sich für zivilisiert gehalten!
Der Wagen hielt an. Sie stiegen aus, ins Freie, und der Beamte führte sie herum und erzählte ihnen Dinge, die sie eher fühlten als hörten, denn all das Böse schien noch in der Luft zu liegen. Das Gras war unglaublich grün, beinahe wie auf einem Golfplatz im Frühlingsregen … Mehr als zwei Millionen Menschen waren an diesem Ort ermordet worden. Zwei Millionen. Vielleicht drei. Nach einer Weile verlor das Zählen seinen Sinn, übrig blieb nur eine Zahl, eine Nummer in einem Geschäftsbuch, geschrieben von irgendeinem Buchhalter, der schon lange nicht mehr darüber nachdachte, was sich hinter den Ziffern verbarg.
Ryan jedoch sah sie vor sich, die Menschen, die Leichen, die Köpfe, aber zum Glück nicht die Gesichter der Toten. Er ging gerade den Weg entlang, den die deutschen Aufseher Himmelstraße getauft hatten. Warum dieser Name? War es reiner Zynismus, oder glaubten sie wirklich, dass es einen Gott gab, der auf ihr Tun herabblickte? Wenn dem so war – hatten diese Aufseher sich Gedanken darüber gemacht, was er von ihren Taten und diesem Ort halten würde? Welche Art von Mensch waren sie nur gewesen? Frauen und Kinder waren hier sofort nach ihrer Ankunft ermordet worden, da sie als Fabrikarbeiter für die I. G. Farben nicht infrage kamen. Diese hatte Industrieanlagen gebaut, um jedes letzte Bisschen Nutzen aus den Todeskandidaten herauszuholen, um mit ihnen noch ein paar Monate lang Profit zu machen. Es waren natürlich nicht nur Juden gewesen: Auch polnische Aristokraten und polnische Priester waren hier umgebracht worden. Zigeuner. Homosexuelle. Zeugen Jehovas. Andere, die von Hitlers Regime als unerwünscht bezeichnet wurden. Lediglich Ungeziefer, das mit Zyklon B ausgerottet werden konnte, einem Derivat aus der Pestizidforschung der deutschen chemischen Industrie.
Ryan hatte weiß Gott keinen netten Tagesausflug erwartet. Er hatte mit einer lehrreichen Erfahrung gerechnet, wie bei seiner Besichtigung des Schlachtfelds von Antietam.
Aber dies hier war kein Kriegsschauplatz, und es fühlte sich auch nicht so an.
Wie musste es für die Männer gewesen sein, die das Lager im Jahr 1944 befreit hatten? Sogar abgehärtete Soldaten, Männer, die jahrelang jeden Tag dem Tod ins Auge geblickt hatten, mussten vor dem zurückgeschreckt sein, was sie hier vorfanden. Trotz all seiner Schrecken blieb ein Schlachtfeld immer ein Ort der Ehre, wo sich Männer einander in grundlegendster Weise auf die Probe stellten – natürlich war es grausam und endgültig, aber es strahlte auch die Ehrlichkeit kämpfender Männer aus, die sich mit anderen Männern maßen. Sie benutzten zwar Waffen, aber … Das ist doch Unsinn , dachte Jack. Der Krieg hatte herzlich wenig Edles an sich… und dieser Ort noch viel weniger. Doch gleichgültig, für welches Ziel und mit welchen Mitteln: Auf dem Schlachtfeld kämpften Männer immer gegen Männer , nicht gegen Frauen und Kinder. Deshalb gab es dort noch eine gewisse Ehre. Aber das hier … nein. Das hier war ein Verbrechen gewaltigen Ausmaßes gewesen. Wie konnten Menschen so etwas tun? Deutschland war heute wie damals ein christliches Land, dieselbe Nation, die einen Martin Luther hervorgebracht hatte, einen Beethoven, einen Thomas Mann. Kam es denn letzten Endes nur auf den Führer an? Adolf Hitler, eine armselige Gestalt, Sohn eines Beamten im mittleren Dienst, ein
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