Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
dieser Hinsicht? Er wusste es nicht, glaubte aber, dass sie ausführlicher miteinander sprachen als Männer. Männern gegenüber hüteten sie zwar so manches Geheimnis, aber wie verschwiegen waren sie im Beisein anderer Frauen? Herrje, hoffentlich erzählte sie nicht ihren Zimmergenossinnen, dass sie sich von einem japanischen Handelsvertreter hatte vögeln lassen! Womöglich war eine ihrer Mitbewohnerinnen Informantin des MSS. Dann würde Ming Besuch von einem Geheimdienstoffizier zu erwarten haben, der ihr dringend anraten würde, die abgeschmackten Zeugnisse bourgeoiser Verirrungen (die Reizwäsche) an ihn, Nomuri, zurückzuschicken mit dem Hinweis, dass sie ihren Job im Ministerium verlieren würde, falls sie ein einziges Mal in seiner Begleitung gesehen werde. Außerdem müsste er von nun an damit rechnen, vom MSS beschattet und durchleuchtet zu werden, und das hätte wahrscheinlich sehr unangenehme Konsequenzen. Man würde ihm zwar keine Spionagetätigkeit nachweisen können, aber das war gar nicht nötig, um ihm Schwierigkeiten zu machen. In diesem Land galt Rechtsstaatlichkeit als bourgeoiser Blödsinn, keiner ernsthaften Erwägung würdig, Punkt. Als ausländischer Gast auf Geschäftsreise durfte er allenfalls darauf hoffen, dass man ihm nicht allzu hart zusetzen würde.
Abgesehen von den schönen Erinnerungen an einen erotischen Abend hatte er noch keinen Grund, sich zu freuen. Seine Sicherheit hing jetzt ganz und gar von Mings Diskretion ab. Natürlich hatte er sie nicht auffordern können, Stillschweigen zu bewahren. So etwas sagte man nicht, weil damit schnell ein falscher Ton ins Spiel kam, wo doch eigentlich Freude und Freundschaft angezeigt waren – vielleicht sogar mehr als Freundschaft. Frauen dachten in solchen Begriffen, erinnerte sich Chester. Und auch aus diesem Grund musste er auf der Hut sein, damit das Berufliche nicht plötzlich privater wurde, als ihm recht sein konnte.
Nur, er hatte mit einer intelligenten und nicht unattraktiven weiblichen Person geschlafen und das Problem war, dass man ein verschenktes Stückchen Herz nicht wieder zurückfordern konnte. Und sein Herz, so erkannte Nomuri verspätet, war entfernt mit seinem Schwanz liiert. Er war nicht James Bond. Es war ihm unmöglich, eine Frau zu umarmen wie eine bezahlte Hure einen Mann. Noch konnte er dem Blick seines Spiegelbildes standhalten. Aber sein Zartgefühl konnte nur von kurzer Dauer sein, wenn er seinen Job gut machen wollte, denn dann durfte Ming nicht mehr für ihn sein als ein Mittel zum Zweck.
Nomuri brauchte Rat und eine Empfehlung, wie er sich verhalten sollte. Aber an wen sollte er sich wenden? Mary Pat oder einer der Psychoklempner, die die CIA zur Betreuung von angekratzten Agenten eingestellt hatte, war gewiss die falsche Adresse. Solche Themen wollten mit einem sympathisierenden Gegenüber besprochen werden, mit jemandem, der nicht zuletzt auch mit dem Körper sprach und der auch im Tonfall anklingen ließ, was er dachte. Nein, eine E-Mail war als Medium jetzt nicht geeignet. Er musste nach Tokio fliegen und mit einem erfahrenen Kollegen sprechen, der wusste, wie mit solchen Problemen umzugehen war. Aber was wäre, wenn der ihm riete, auf intime Kontakte zu Ming zu verzichten? Nomuri war ohne Freundin und hatte wie jeder andere Mensch ein Bedürfnis nach Intimität. Und überhaupt, wenn er sie schneiden würde, was hätte er als Geheimdienstler davon? Wer zur CIA ging, gab doch nicht seine menschlichen Regungen an der Garderobe ab! Wie weit entfernt erschienen ihm nun die bierseligen Witzeleien abends nach dem Unterricht und all die Erwartungen, die er und seine Kollegen gehabt hatten, die mit ihm in der Ausbildung gewesen waren! Er hatte ja kein Ahnung gehabt, als grüner Junge, der er zum Teil auch noch während seiner Zeit in Japan gewesen war. Jetzt aber war er plötzlich ein Mann, allein in einem Land, das voll von Argwohn und Ressentiments war. Tja, wie es hier weitergehen würde, hing jetzt von Ming ab, und das war etwas, das sich nicht mehr rückgängig machen ließ.
Den Kolleginnen fiel eine Veränderung an ihr auf. Sie lächelte ein bisschen mehr und irgendwie anders. Vielleicht hatte sie etwas Schönes erlebt, dachten einige und freuten sich für sie, blieben aber dabei reserviert. Wenn Ming ihnen ihre Erfahrung mitteilen wollte – gut. Wenn nicht, war das auch in Ordnung, denn manche Dinge hatten einfach privat zu bleiben, selbst unter Kolleginnen, die sonst fast alles untereinander
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