Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
eines Jungen höher angesetzt wurde als das Leben eines Mädchens, hatte mittlerweile schon zu einem unübersehbaren demographischen Missverhältnis geführt, was Probleme aufwarf, über die kaum jemand offen reden wollte, am wenigsten die Mitglieder von Staatsrat und Politbüro. In ungefähr 15 Jahren würde es einen dramatischen Frauenmangel geben. Manche meinten, das sei gut so, weil dann endlich der Bevölkerungszuwachs nachhaltig gebremst werde. Andererseits aber würden Millionen von chinesischen Männern auf Ehe und Familie verzichten müssen. Würden sie zuhauf homosexuelle Neigungen entwickeln? Das stand zwar seit 1998 nicht mehr unter Strafe, galt aber als bourgeoise Erscheinung, typisch für den degenerierten Westen. Doch woran sollte sich ein Mann halten, wenn es keine Frauen mehr gab? Nicht nur, dass unliebsame Neugeborene umgebracht wurden – viele Eltern gaben ihre Töchter zur Adoption an amerikanische oder europäische Ehepaare ab, die selbst keine Kinder bekommen konnten. Dazu kam es hunderttausendfach, die Kinder gingen weg wie Massenware. Insgeheim empörte sich Fang darüber, doch dann tat er seine Gefühle als Anwandlungen bourgeoiser Sentimentalität ab. Die nationale Politik entschied über den Weg zum erklärten Ziel.
Sein eigenes Leben war komfortabel und privilegiert. Sein Büro war nicht weniger gut ausgestattet als das eines Kapitalisten. Ihm standen ein Wagen mit Fahrer zur Verfügung und eine luxuriöse Wohnung mit Bediensteten, die sich um sein Wohlergehen kümmerten und mit den besten Speisen und Getränken versorgten, die das Land zu bieten hatte. Sein Fernseher empfing Satellitenprogramme, so dass er abwechslungsreich unterhalten war, nicht zuletzt auch mit japanischen Pornofilmen (er sprach zwar kein Japanisch, aber die Dialoge in solchen Streifen waren ja ohnehin überflüssig, oder?).
Fang arbeitete nach wie vor täglich viele Stunden. Er stand um halb sechs auf und war meist schon vor acht im Büro. Seine Mitarbeiter und Assistenten leisteten ihm gute Dienste, und manche der Sekretärinnen waren sogar ein oder zweimal pro Woche besonders entgegenkommend. Fang war stolz darauf, trotz seines fortgeschrittenen Alters noch sehr vital zu sein, mindestens so vital wie Mao, den er persönlich gekannt und, was seine Neigung für Kinder anging, ziemlich abgeschmackt gefunden hatte. Aber großen Männern waren solche unschönen Seiten zugestanden, darüber sah man hinweg, weil das Großartige überwog. Was ihn selbst und seinesgleichen anging, war Fang davon überzeugt, dass ihnen angesichts der schweren Arbeit, die sie verrichteten, eine zuträgliche Umgebung, vorzügliche Speisen und Möglichkeiten der Erholung zustanden, die Männer ihres Schlages brauchten. Es war in diesem Sinne notwendig , dass sie privilegiert lebten, und es war auch verdient . Das bevölkerungsreichste Land der Welt zu regieren war schließlich kein Pappenstiel. Das erforderte einen hohen Aufwand an intellektueller Energie, und diese Energie musste gepflegt und genährt werden. Fang blickte auf, als Ming zur Tür hereinkam und die Mappe mit den Zeitungsausschnitten brachte.
»Guten Morgen, Genosse Minister«, grüßte sie förmlich.
»Guten Morgen, Kind.« Fang nickte zutraulich. Sie war im Bett recht gut und verdiente darum mehr als nur ein Grummeln. Nun, er hatte ihr auch einen bequemen Bürosessel zukommen lassen, nicht wahr? Sie verbeugte sich, respektvoll wie immer, und ging wieder hinaus. Die Veränderung, die anderen an ihr aufgefallen war, bemerkte Fang nicht. Er öffnete die Mappe, entnahm ihr die neusten Nachrichten und langte nach einem Stift, um sich Notizen zu machen, die er dann mit den nachrichtendienstlichen Erkenntnissen des MSS vergleichen würde. Das war seine Art, dem Ministerium für Staatssicherheit kundzutun, dass Politbüro-Mitglieder einen eigenen Kopf zum Denken hatten. Schlimm genug, dass Amerikas diplomatische Anerkennung Taiwans vom MSS nicht vorhergesehen worden war, entschuldbar nur insofern, als Präsident Ryan mit diesem Schritt auch die amerikanische Presse überrascht hatte. Dieser Mann ließ sich offenbar schwer einschätzen, fest stand nur, dass er kein Freund der Volksrepublik war. Die zuständigen Mitarbeiter des MSS nannten ihn einen Bauerntrampel, was in mancherlei Hinsicht auch durchaus angemessen zu sein schien. Auch die Kommentatoren der New York Times wunderten sich häufig über seine mitunter reichlich trivialen Ansichten. Warum war er bei denen so schlecht
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