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Im Zeichen des großen Bären

Im Zeichen des großen Bären

Titel: Im Zeichen des großen Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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bauten dem Bären eine Art Zwinger, der komfortabler war als ihre eigene Unterkunft. Rockwell träumte bereits davon, ihm später am Huronensee ein riesiges Freigelände mit eigenem Fischteich einzurichten. Doch vorerst war der Bär Allgemeinbesitz: das Maskottchen der 2.573 Männer des gesamten 159. Infanterieregiments von Ontario!
    Was war Zeit? Nur die Geduld, einen Tag nach dem anderen durchzustehen, und die Hoffnung auf etwas, das eigentlich keiner mehr klar zu umreißen vermochte und das Frieden hieß. Viele Monate dauerte es noch, bis die 3. Kompanie in die Reservestellungen zurückgenommen wurde. Und es waren längst nicht mehr alle Männer, die aufgebrochen waren. Höchste Zeit, den Rest ein wenig aufzupäppeln und die gelichteten Reihen nach Kräften aufzufüllen für den nächsten Einsatz.
    Inzwischen war das offizielle Maskottchen des 159. Regiments bereits zu einer Art Legende herangereift. Der Bär war nun entschieden gewachsen und glich zweifellos in der Größe den Vorstellungen, die Adjutant Clark anfangs von ihm gewonnen hatte. Er war ein rechtes ›Frontschwein‹ geworden: unbekümmert um kleinere Knallereien, vorsichtig, ohne ängstlich zu sein, und äußerst ruppig in seinen Umgangsformen, obwohl er auch sehr gefühlvoll war, besonders gegenüber seinem Betreuer William Rockwell, der sich große Mühe mit ihm gab.
    Winter 1917/18! Alles, was über Jahre angelegt gewesen war, trieb nun seinem Höhepunkt zu. Die Deutschen hungerten entsetzlich. Die Franzosen und Engländer hatten ihnen mit Erfolg die Nachschublinien gekappt. Der ewige Stillstand der Front schadete auch der Moral der Truppen, und das galt hüben wir drüben. Eine Erschlaffung drückte die Stimmung. Resignation machte sich breit. Haß war nicht mehr aufrecht zu erhalten, wenn er denn überhaupt je in starkem Maße vorhanden gewesen war. Disziplin verwässerte in der allgegenwärtigen, gemeinsamen Gefahr. Die Soldaten hatten die Schnauze voll.
    Die ›Siegfriedlinie‹ war zum Symbol geworden für Stagnation. Es gab nicht mehr den Schwung forsch vorangetragener Angriffe. Nur noch dies: Kleinkrieg. Tödlichen, bitteren Kleinkrieg.
    William Rockwell war in allergedrücktester Verfassung. Seine Jenny hatte über einen Monat lang nicht geschrieben. Oder war die Post nur verloren gegangen? Er wagte nicht mehr, das anzunehmen. Seine Phantasie gaukelte ihm ein entsetzliches Bild vor. Nachts schreckte er hoch und meinte es direkt vor sich zu sehen: Jenny in einem beleuchteten Zimmer sitzend, der Lampenschein fiel auf ihr Kastanienhaar und vergoldete es so märchenhaft, wie er's oft gesehen hatte in glücklichen Zeiten. Sie machte eine Handarbeit, häkelte Spitzen; ja, das hatte sie oft gemacht. Lucille, in Williams Vorstellung noch ein Baby, spielte ihr zu Füßen. Jim schmökerte in einem Abenteuerbuch. Und wer saß da, in Filzpantoffeln, Pfeife in Brand, und las mit satter Stimme aus der Zeitung vor? Dobbs!
    Hier, an dieser Stelle spätestens, krümmte Williams sich zusammen. Sein Magen tat weh. Auch das Herz schmerzte. Ja, die Gewißheit erfüllte ihn ganz, daß ein anderer seinen Platz eingenommen hatte. Jenny konnte sich nicht verstellen. Ihre Briefe flossen ja über vor Begeisterung über den Schleicher, der sie ausnutzte und Schlimmeres. Auch Jim gebrauchte so niederschmetternde Wendungen wie: »Mr. Dobbs hat uns zwei Drachen gebaut. Meiner fliegt noch nicht. Wir müssen den Schwanz verlängern. Aber der von Lucille ist neulich ganz, ganz oben angekommen. Wir haben den Engeln eine Botschaft hochgeschickt. Daß du heil wiederkommst, lieber Dad.«
    William hatte geweint. Warum nicht? Jeder weinte hier einmal. Heimlich oder offen, was konnte man hier noch an Gesicht verlieren?
    William hatte um Urlaub nachgesucht. Das taten alle. Aber das Vaterland konnte zur Zeit niemanden entbehren. Also hieß es weiterhin: Zähne zusammenbeißen, Witze reißen, sich drüber wegmogeln. Jedenfalls tagsüber.
    Der Bär von St. Jules hatte sich im Herbst den Wanst tüchtig vollgeschlagen. Nun lag er ausdauernd in seiner Schlafnische und döste vor sich hin oder schlief fest. Er folgte dem Gesetz seiner Natur. Er vollzog den Rhythmus der Jahreszeiten mit. Webbs erklärte den Männern, der Bär sei nicht etwa krank, sondern er halte seine Winterruhe. »Im Frühling wird er wieder munter, und da er dann eineinviertel Jahr alt sein wird, lehrt er uns eventuell das Fürchten«, grinste Webbs. »Ich für meine Person habe gleich gewarnt. Aber ich muß zugeben,

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