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Im Zeichen des großen Bären

Im Zeichen des großen Bären

Titel: Im Zeichen des großen Bären Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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eine Stunde später erschien dann ein zierliches Mädchen an derselben Stelle. Alice hatte ihr hübschestes Kostüm angezogen und trug einen Schirm über dem Arm. Sie duftete nach ›Lenthéric‹, dem Parfüm der verführerischen Frau, und hoffte und bangte gleichzeitig. Sie hoffte, daß er da sein werde, der gut aussehende Blonde, der sie in diesen wundervollen, alles verschlingenden Aufruhr versetzt hatte. Sie bangte, weil sie sich auch fürchtete vor diesem Versinken.
    Hatte sie wirklich geglaubt, er sei da? Nur, weil er ihr erzählt hatte, der Bär Kitchener habe eine Rolle in seinem Kinderleben gespielt?
    Natürlich war er nicht da. Dachte gar nicht daran. Oh, ich dumme Pute, dachte Alice. Nur gut, daß niemand weiß, wie dämlich ich mich hier aufführe. Gut, daß ich Tante Bettie gesagt habe, ich ginge ein Stückchen in ›Queen Mary's Rosegarden‹ spazieren.
    Jetzt fielen sogar einige dicke Tropfen vom Himmel. Sie spannte ihren Schirm auf. Die Bären ließen sich gar nicht sehen. Was für ein trister Tag!
    Alice atmete tief durch und wandte sich zum Gehen. Wenn das Schicksal mich noch einmal in eine ähnliche Lage bringt, werde ich klüger sein, nahm sie sich vor. Aber sie war sehr traurig.
    Eine sehr alte Dame kam langsam näher. Sie trug einen abenteuerlichen Hut, mit Blumen und Obst garniert. Ihr Gesicht war dick rosa gepudert. In ihre Stirn ringelten sich ein paar weiße Löckchen. Sie trug eine Krimmerjacke, die zerrupft aussah, und einen grauen Rock, der fast bis auf ihre spitzen Schuhe hinunterreichte.
    »Sie schlafen alle«, sagte die Märchenfrau zu Alice. »Im Winter ist mit Bären nichts anzufangen. Kommen Sie im Frühling wieder, mein Kind, dann können Sie alle wieder frisch und munter sehen. Wissen Sie, Bären sind wundervolle Tiere. Sie passen sich viel besser in die Jahreszeiten ein als wir angeblich so klugen Menschen.«
    Alice nickte. Die Dame war sehr freundlich. Aber wenn man gerade mit den Tränen kämpfte, dann war man am liebsten allein.
    »Sie sind ganz allein hier?« fragte die Dame und sah Alice forschend an. »Kennen Sie das Märchen von ›Schneeweißchen und Rosenrot‹? Da hatten zwei Mädchen einen großen braunen Bären als Freund und Spielgenossen. Und nachher war er ein wunderschöner Prinz.«
    »Nein, das kenne ich nicht.«
    »Warten Sie vielleicht auch auf einen Prinzen?« fragte die sonderbare Person hellsichtig.
    Alice errötete prompt. »Vielleicht kennen Sie einen?« versuchte sie zu scherzen.
    »Ach was. Ich bin die Pudding-Lady. Haben Sie noch nicht von mir gehört? Ich bringe Kitchener zweimal die Woche seinen Abendpudding. Jedenfalls in der schönen Jahreszeit. Wir sind dicke Freunde.«
    Alice lächelte so freundlich wie möglich und ließ die verrückte Dame stehen. Pudding für einen Bären! So ein Unsinn! Von Bären hatte sie jetzt überhaupt die Nase voll.
    Am nächsten Tag jedoch trafen sich Alice und die Pudding-Lady wieder im Zoo. Sie lächelten sich an, und Alice sagte gleich: »Ich bin doch noch einmal hergekommen, weil Sie das von Schneeweißchen und Rosenrot erzählt haben. Wer weiß, vielleicht treffe ich heute wirklich einen Prinzen.« Heimlich fügte sie hinzu: Ich hoffe es so sehr. Ich bin so dumm gewesen. Wahrscheinlich ist er längst abgereist. Oder, schlimmer noch, er geht mit einer anderen spazieren.
    Die alte Dame machte ein verschmitztes Gesicht. »Ist der Prinz vielleicht blond, groß und hat er breite Schultern und hellgraue Augen und einen kanadischen Akzent?«
    Alice war sprachlos. Sie riß einfach die dunklen Augen auf und starrte die unheimliche Pudding-Lady an.
    »So einer war vorhin nämlich hier, und ich habe ihm erzählt, daß ich gestern sehr nett mit einer jungen Dame geplaudert habe. Er fand das höchst interessant.«
    »Und?«
    »Und was? Was meinen Sie, liebes Kind?«
    Alice verschluckte sich beinahe vor Aufregung. »Kommt er wieder?«
    »Wie soll ich das wissen? Ich habe ihm jedenfalls geraten, etwas später noch einmal vorbeizukommen, weil Sie gestern doch auch um diese Zeit da waren. Ob er kommt … was weiß ich? Das Wetter ist wohl nicht danach.«
    Tatsächlich war das Wetter ganz und gar nicht für einen Zoobesuch geeignet, denn ein heftiger Wind trieb dicke, dunkle Wolken über den Himmel, und nun fielen schwere Tropfen. Papier und Heu wehten über die Wege. Spatzen und Drosseln suchten eilig schützendes Gebüsch auf. Das Paradies war verschwunden. Seine Tiere zogen sich zurück.
    Alice hatte ihren Schirm aufgespannt.

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