Im Zeichen des großen Bären
Nun wurde er vom Sturm umgeklappt.
»Kommen Sie, wir stellen uns dort unter!« rief die Dame und eilte voraus zu dem Häuschen, das sonst Futter feilhielt, an diesem Tag jedoch nicht geöffnet hatte.
Während der Regenschauer heftig niederrauschte und die Wege in lehmige Rutschbahnen verwandelte, schwankte Alice zwischen dem beglückenden Gefühl, daß er da gewesen war, und tiefer Niedergeschlagenheit, weil sie einander verpaßt hatten. Immer noch blickte sie hoffnungsvoll die Wege entlang, doch niemand war zu sehen.
Dann hörte der Regen mit einem Schlag auf. Die Sonne tauchte den Tierpark in gleißendes Licht. Büsche und Rasen dampften. Die Blumen auf dem Hut der Pudding-Lady, die vom Wind zerzaust und vom Regen durchnäßt worden waren, richteten sich wie von Zauberhand wieder auf.
»In den Märchen kommen die Prinzen immer beim dritten Mal«, versuchte die Pudding-Lady zu trösten, als Alice sich bedrückt verabschiedete.
Aber manchmal ist die Wirklichkeit eben schöner als ein Märchen.
Als Alice am Kassenhäuschen vorbei das Eingangstor zum Zoo passierte, das von zwei riesigen Elefantenplastiken flankiert wurde, trat Jim Rockwell lächelnd hinter der Torbogensäule hervor. Alices Herz machte einige wilde Sätze, aber gleichzeitig wurde ihr auch klar, daß sie nicht gerade in der verführerischsten Form für ein Rendezvous war.
Ihren Hut trug sie in der Hand, und selbst da wirkte er regelrecht zerfleddert. Das Kostüm klebte naß an ihren Schenkeln. Ihr Haar zeigte keinerlei Spuren von Frisur. Der Schirm war kaputt und ließ Stoff und Streben hängen wie eine kranke Krähe das Gefieder. Und der junge Mann grinste auch noch darüber!
Beinahe hätte Alice wieder töricht gehandelt und wäre fortgelaufen. Doch diesmal packte Jim sie am Ellenbogen und ging neben ihr her, während er das Schirmwrack ergriff und wie einen Spazierstock benutzte, worüber Alice nun wieder lachen mußte.
»Endlich!« sagte er und atmete tief auf. »Ist das nicht ein wundervoller Tag heute?«
Als wolle der Himmel sie necken, verdunkelte er sich kurz und spuckte einen leichten Schauer von Hagelkörnern und Schneeflocken dem Unwetter von vorhin hinterher.
Jim und Alice lachten unbändig darüber. Zugleich lachten sie ihre Besorgnisse und Enttäuschungen über die mißglückten ersten Begegnungen weg.
Jim faßte es schlicht zusammen: »Diesmal trennen wir uns nicht wieder!«
Und Alice seufzte zustimmend. »Ich laufe nicht mehr weg.«
Sie schlenderten in den Garten der Royal Botanic Society. Der See mit den halb voll Wasser gelaufenen Ruderbooten wirkte abgelegen wie am Ende der Welt. Einige späte Rosen hatten sich noch behauptet und funkelten mit ihren Wassertropfen wie schöne Frauen mit ihrem Geschmeide. Niemand war weit und breit zu sehen, als Jim Alice endlich in die Arme nahm und den Mund küßte, von dem er so lange geträumt hatte. Er drängte sie nicht, sondern wartete, bis sie selber sich entzündete, sich an ihn drängte und auf seine zärtlichen Berührungen ansprach. Er war ein erfahrener Mann, und hier war die Frau, für die es sich lohnte alles zu geben, was ein Mann geben konnte an Gefühl und Raffinement.
Am nächsten Tag machte Jim Rockwell offiziell Besuch bei Großtante Bettie. Sie musterte ihn und wußte sofort Bescheid. »Sie waren doch neulich im Zoo bei den Bären, nicht wahr?«
»Ja, gnädige Frau, das stimmt.«
»Wissen Sie, daß unsere Alice als Kind mit einem Bären herumgezogen ist?«
»Als Kind? Mit einem Bären?«
»Tante Bettie, ich glaube, das sollte ich Jim lieber selbst in Ruhe erzählen«, lächelte Alice.
Jim balancierte zierlich sein Martini-Glas und lehnte sich im Sessel zurück, wobei er die langen Beine übereinanderschlug. »Ich will alles über dich wissen, Alice«, sagte er. »Und du sollst auch alles erfahren, was mich angeht. Viele Geheimnisse hat ein Farmerssohn aus Ontario nicht. Und er hofft, daß er als Maler nicht nur begabt ist, sondern auch erfolgreich sein wird.«
Tante Bettie lächelte beifällig. Der junge Mann gefiel ihr, doch sie blieb maßvoll. Schließlich mußte man erst Erkundigungen über seine Familie einziehen. Big Ben würde das schon machen. Sie hatte eine große Verantwortung übernommen, als sie ein junges Mädchen unter ihre Fittiche nahm. Für ein langes Leben genügte es nicht, attraktiv zu sein. Leider. Kunstmaler war nun auch nicht unbedingt das Non-plus-ultra. Aber vielleicht hatte die Familie Geld. Sie wünschte ihrer reizenden Nichte das
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