Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Rasierwasser, wollte ihn aber nicht ansehen, hatte nicht die Kraft.
»Das Publikum draußen … die Wähler, die Leute im Land … egal, wie du sie nennst. Warum sollen die ausgerechnet uns wählen? Weil wir verteilen wollen, Ruth-Dorthe. Wir sind nicht mehr revolutionär. Wir sind nicht einmal radikal. Wir verwalten eine vom Markt gelenkte Gesellschaft und leben in einem internationalen Raum, der größtenteils vom Kapital gesteuert wird. Vieles hat sich verändert. Vielleicht sollten wir uns sogar einen neuen Namen geben.«
Sie spürte die Wärme seines Gesichts, spürte winzige Tropfen Speichel, die auf ihr flammendes Gesicht trafen, sie kniff wieder die Augen zusammen, wagte aber nicht, sich abzuwenden.
»Gerechtigkeit«, flüsterte er. »Eine angemessene, einigermaßen gerechte Verteilung der Milch und des Honigs, die in diesem Land fließen.«
Er erhob sich zu voller Größe, als sei er plötzlich von Rückenschmerzen überwältigt worden.
Am Fenster drehte er sich wieder um. Die Dunkelheit senkte sich über die Stadt, zusammen mit dem Regen, der hinter den Bergen auf der Lauer gelegen und auf den Abend gewartet hatte. In der Akersgate waren zwei Autos zusammengestoßen, er sah wütende Menschen mit den Armen fuchteln, während ein erboster Bus versuchte, auf dem Bürgersteig an ihnen vorbeizufahren.
»Wir werden niemals vollständige Gerechtigkeit erreichen können«, sagte er dann. »Nie. Aber um irgend etwas zu tun, um zumindest zu versuchen, mehr Ausgleich zu schaffen … bist du eigentlich jemals im Ostteil der Stadt gewesen?«
Er sah sie in der Fensterscheibe, in ihrem Spiegelbild hatte die Haut einen grünlichen Farbton angenommen.
»Bist du wirklich jemals dort gewesen? Hast du schon mal eine Einwandererfamilie in Tøyen besucht, mit fünf Kindern, Klo auf halber Treppe und Ratten im Keller, die so groß wie Katzenjunge sind? Und bist du dann dorthin gefahren …«
Er zeigte auf die Hügel im Westen.
»… und hast dir angesehen, wie die leben?«
Ruth-Dorthe mußte sich in die Wange beißen, um nicht zusammenzubrechen. Sie zwinkerte verzweifelt mit den Augen und merkte plötzlich, daß sich in ihrer linken Hand ein Krampf ankündigte, die Fingerknöchel waren kreideweiß, und sie versuchte, die Stuhllehne loszulassen.
»Man hat ja nicht viel Zeit«, sagte Tryggve Storstein.
Seine Stimme klang jetzt anders, mild, er schien mit einem widerspenstigen Kind zu sprechen, das väterliche Ermahnungen brauchte.
»Man hat viel zu selten Zeit, um sich über das Warum Gedanken zu machen. Warum wir das tun, was wir tun. Aber ab und zu muß das sein.«
Plötzlich schlug seine Stimme wieder um, er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen, und seine Worte peitschten über den Tisch.
»Du machst Politik für dich selber, Ruth-Dorthe. Zu deinem eigenen persönlichen Vorteil. Du denkst nicht an andere. Nicht an die Partei, nicht an deine Mitmenschen. Nur an dich selber.«
Das wollte sie sich nicht gefallen lassen. Das Leben schien unter ihren Füßen wegzugleiten, sie hatte das Gefühl, bei einem Erdbeben nicht mehr zu wissen, ob sie noch festen Boden unter den Füßen hatte oder ob sich im nächsten Moment der Abgrund auftun würde. Aber das hier würde sie sich nicht gefallen lassen. Sie warf sich wütend über den Tisch, schnappte sich einen gläsernen Briefbeschwerer und hob ihn drohend.
»Jetzt gehst du zu weit«, fauchte sie. »Vergiß nicht, daß ich stellvertretende Vorsitzende …«
Er lachte. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
»Und wie du das geworden bist, ist ein Rätsel.«
»Aber …«
»Halt den Mund!«
Sie ließ sich in den Sessel zurücksinken. Noch immer hatte sie den Briefbeschwerer in der Hand, sie umklammerte ihn, hielt die klobige Figur aus blauem Glas fest, als enthalte sie ihre letzte große Chance für … ja, wofür, wußte sie selbst nicht so genau.
»Du bist eine Idiotin«, sagte Tryggve Storstein, und seine Stimme troff geradezu vor Verachtung. »Weißt du nichts über moderne Kommunikationsmittel? Weißt du nicht, daß ein Faxgerät alle Sendungen registriert und alle Nummern speichert?«
Vor ihr drehte sich alles. Was sollte sie tun?
»Du bist so egoistisch, daß du keine anderen Menschen siehst, Ruth-Dorthe. Du verstehst sie nicht. Du läßt dir nie die Zeit, dich in andere hineinzuversetzen, weil es dich nicht interessiert, wie die Menschen in deiner Umgebung die Welt erleben und was sie empfinden. Und deshalb wird aus dir nie im Leben
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