Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Gesellschaft nicht wohl zu fühlen, obwohl er manchmal zerstreut wirkte, fast fehl am Platze hinter dem großen, geschwungenen Schreibtisch, mit seiner ewig gerunzelten Stirn und dem seltsamen kleinen Zucken der Mundwinkel, wenn er sich räusperte und sie um etwas bat. Normalerweise holte er sich alles selbst. Es schien ihm unangenehm zu sein, sich bedienen zu lassen; einmal hatte er das ganz offen gesagt, als sie an der Kaffeemaschine in der Küche beinahe miteinander zusammengestoßen wären:
»Ich komme mir so blöd vor, wenn jemand anders das für mich tut. Eigentlich können sich doch alle ihren Kaffee selber kochen und holen.«
Die Freundin hatte wirklich geweint. Sie hatte geflüstert und leise geschluchzt, ihre feuerroten Fingernägel hatten nervös vor ihrem Gesicht getanzt, als sie ihr stotternd das Herz ausgeschüttet hatte. Sie war zu Wenche Andersen gekommen, weil sie restlos verwirrt war und weil Wenche Andersen nicht nur eine alte Freundin war, sondern auch eine Art Vorgesetzte, wenn nicht formal, so doch durch ihre Erfahrung und ihre Tüchtigkeit. Die Freundin arbeitete erst seit vier Jahren im Vorzimmer der Gesundheitsministerin. Sie war aufgrund von Wenche Andersens Empfehlung dort gelandet, und deshalb fühlte diese sich für sie besonders verantwortlich.
»Er war sehr froh darüber, daß wir ihm Bescheid gegeben haben«, tröstete sie ihre Freundin am Telefon.
Ministerpräsident Storstein hatte ausdrücklich darum gebeten, diese Episode niemandem gegenüber zu erwähnen. Das war am Freitag gewesen, und seither war nichts passiert. Zumindest nichts, wovon Wenche Andersen gewußt hätte.
Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon schon wieder.
»Vorzimmer des Ministerpräsidenten.«
Am anderen Ende der Leitung war das Garagenbüro. Sie hörte einige Sekunden aufmerksam zu.
»Steckt sie in eine Plastiktüte, und faßt sie auf keinen Fall noch einmal an. Bringt sie sofort zur Wache. Fragt nach Tone-Marit Steen. Steen, ja, mit zweite. Ich melde euch schon mal an.«
Die Schlüsselkarte. Sie hatten Birgitte Volters Schlüsselkarte gefunden. Sie hatte in der Spalte zwischen Sitz und Rückenlehne eines Regierungsfahrzeugs gelegen und war erst beim Staubsaugen entdeckt worden.
Wenche Andersen versuchte, die freundliche junge Beamtin zu erreichen, die sie, wie ihr schien, vor einer halben Ewigkeit verhört hatte. Während sie die Nummer wählte, betrachtete sie ihre Hände. Alles außer der Haut schien geschrumpft zu sein; die Haut lag in dünnen Falten über Sehnen und Gewebe und schien alle Kraft eingebüßt zu haben. Wenche Andersen fuhr sich langsam über den Handrücken und merkte zum ersten Mal seit sehr langer Zeit, daß sie älter wurde.
Wieder durchfuhr es sie, diese Sehnsucht nach vergangenen Zeiten.
13.00, Hauptwache Oslo
»Wenn wir ihn jetzt dem Untersuchungsrichter vorführen, ist die Hölle los, verstehst du das nicht?«
Severin Heger war dem Überwachungschef gegenüber noch nie laut geworden, aber jetzt strahlte er die pure Verzweiflung aus.
»Wenn das herauskommt, sind wir am Ende. Ich habe noch nie gehört, daß es gelungen wäre, jemanden hinter dem Rücken der Presse in U-Haft zu stecken. Herrgott, Hermansen, wenn das durchsickert, werden wir vor Gericht die Hölle erleben.«
Der Überwachungschef schob den Unterkiefer mit einem klickenden Geräusch hin und her, eine Unsitte, die seine Frau ihm nun schon seit Jahren auszutreiben versuchte. Jetzt dachte er so intensiv nach, daß es knackte.
»Ich weiß ja, was du meinst«, murmelte er und zupfte an seiner Schreibunterlage herum. »Aber wir können ihn doch nicht einfach festhalten. Er sitzt schon seit Samstagmorgen, und heute ist im Grunde unsere letzte Frist.«
Severin Heger faltete die Hände und versuchte, ruhig zu sitzen.
»Können wir nicht einen der festen Richter fragen?« schlug er dann vor. »Einen von denen, mit denen wir viel zu tun haben? Und dann regeln wir das in aller Ruhe heute abend, wenn niemand mehr im Gericht ist.«
Ole Henrick Hermansen starrte den Weberknecht an, der gerade in der Ecke über der Tür sein Werk vollendete. Das eifrige Insekt jagte hin und her und hing plötzlich in der losen Luft, gehalten von einem so feinen Faden, daß er mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Eine Mücke rang vergeblich mit dem Spinnennetz, der Weberknecht hatte sie entdeckt und näherte sich auf seiner unsichtbaren, selbstkonstruierten Seilbahn.
»Es geht auf den Frühling zu«, grunzte der
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