Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Gesicht hervor. Die Schatten der Schreibtischlampe betonten die verschobenen Proportionen – ein dünnes Gesicht mit viel zu großen Linien.
»Das kannst du nicht machen. Dazu hast du wirklich kein Recht. Bei Regierungsbesprechungen kannst du mich überstimmen, von mir aus … aber meine Entscheidungen kannst du mir nicht aus der Hand nehmen.«
Tryggve Storstein rührte noch immer in seinem Tee, eine unnötige Kreisbewegung, auf die er seinen Blick richten konnte. Plötzlich hörte er auf, leckte den Löffel ab und blies in die heiße Flüssigkeit.
»Die Alternative wäre dein Rücktritt«, sagte er leise. »Du hast die Wahl zwischen zwei Übeln. Entweder gehorchst du, und dann tausche ich dich einige Zeit nach der Wahl aus. Ruhig und ordentlich, und niemand erfährt Näheres darüber. Oder du trittst jetzt zurück, und ich teile der Öffentlichkeit die Ursachen für deinen Rücktritt mit. Und zwar in allen Einzelheiten.«
»Aber du kannst nicht … die Partei … Tryggve!«
»Die Partei!«
Er lachte wieder, herzlicher diesmal, als finde er die Situation wirklich amüsant.
»Du hast doch noch nie an die Partei gedacht«, sagte er müde. »Jetzt hast du die Wahl. Pest oder Cholera.«
Fünf Minuten saßen sie schweigend da. Tryggve trank Tee, streckte die Beine aus und schien an etwas ganz anderes zu denken. Ruth-Dorthe war wie versteinert. Eine vereinzelte Träne rollte über ihre glühendrote Wange. Er sah diese Träne und verspürte einen kurzen Anflug von Mitleid. Rasch verdrängte er dieses Gefühl.
Plötzlich klingelte das Telefon. Beide fuhren zusammen, und Tryggve Storstein nahm erst nach kurzem Zögern ab.
»Für dich«, sagte er kurz und verdutzt und reichte ihr den Hörer.
Die Gesundheitsministerin griff mechanisch danach, wie eine Schaufensterpuppe mit steifen Gliedern und ruckartigen Bewegungen.
»Na gut«, sagte sie und gab ihm den Hörer zurück. »Ich soll zur Hauptwache kommen. Jetzt gleich.«
Dann verließ die Gesundheitsministerin ihren Regierungschef, ohne ihn über ihre Entscheidung informiert zu haben.
Das spielte aber keine Rolle. Er wußte, daß sie nie im Leben eine öffentliche Niederlage wählen würde.
Er hatte sie zerschmettert. Es überraschte ihn, daß er nicht einmal einen Hauch von Reue oder Kummer verspürte. Wenn er in sich hineinhorchte, merkte er, daß sie ihm leid tat. Aber das war auch alles.
Man hätte ihr schon vor langer Zeit das Handwerk legen sollen.
23.10, Hauptwache Oslo »Keinen Schimmer.«
Billy T. rieb sich kurz das Gesicht und schnaubte, als tauche er aus eiskaltem Wasser auf.
»Aber ihre Aussage wirkt doch eigentlich plausibel. Diese Frau hat irgend etwas …«
Er schüttelte sich, versuchte mit den Fingern einen Punkt auf seinem Rücken zu erreichen und wand sich verzweifelt.
»Hanne, kratz mich mal. Da! Nein, nein, weiter oben, mehr seitlich. Da, ja.«
Hanne Wilhelmsen verdrehte die Augen und kratzte ihn hart und brutal fünf Sekunden lang.
»So. Setz dich.«
Sie lächelte Håkon Sand an, doch der dachte weiterhin nur an sein Kind, das sich weiterhin weigerte, Mamas Bauch zu verlassen. Er wählte eine Nummer und bedeutete den beiden anderen, still zu sein.
»Ach je, tut mir leid«, sagte er und schnitt eine Grimasse. »Hab ich dich geweckt?«
Er hörte kurz zu, machte dann ein Kußgeräusch und legte auf.
»Meine Besorgnis geht ihr auf die Nerven«, grinste er hilflos. »Aber es macht mich alles so verdammt nervös! Ich habe heute die Besprechung verpaßt, nur weil ich glaubte, beim Aufstehen Zuckungen in Karens Bauch gesehen zu haben. Herrgott, wie anstrengend das alles ist!«
»Reg dich ab«, sagten die beiden anderen wie aus einem Munde. »Er kommt schon noch.«
»Er ist ein Mädchen«, murmelte Håkon Sand und starrte Birgitte Volters Schlüsselkarte an, die in einer Plastikmappe steckte und schon auf Fingerabdrücke hin untersucht worden war.
Die von Ruth-Dorthe Nordgarden waren sehr deutlich gewesen. Zwei Abdrücke. Einer vom Daumen, einer vom Mittelfinger der rechten Hand. Als sie mit dieser Tatsache konfrontiert worden war, hatte ihre Miene absolute Verwirrung gezeigt. Nach vielen Denkpausen war sie stotternd zu der Aussage gelangt, Birgitte habe die Karte vor ungefähr einem Monat im Besprechungssaal des Parlaments verloren. Ruth-Dorthe hatte sie aufgehoben, war hinter Birgitte hergelaufen und hatte sie ihr gegeben. Eine andere Möglichkeit, wie ihre Fingerabdrücke auf Birgitte Volters Schlüsselkarte gelangt sein könnten,
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