Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
darauf können Sie Gift nehmen. Kaja hat nix angestellt. Jedenfalls nix, was die Polizei was angehen würde.«
Billy T. ließ seinen Blick von Kaja zu ihrem Vater wandern.
»Hat Kaja eigentlich keine Mutter?« fragte er optimistisch. »Vielleicht könnte die Sie hier ablösen, wenn Sie keine Zeit haben.«
»Kajas Mutter ist tot. Ich bleib hier. Kann meine Tochter doch nicht in den Krallen von den Bullen lassen, Mann.«
Jetzt schien sich der Mann auf der Wache plötzlich wohl zu fühlen. Sein bleiches, verschwitztes Gesicht wies eine zufriedene Miene auf, und er fischte eine Packung Tabak aus seinem Hosenbund.
»Rauchen ist hier leider verboten«, murmelte Billy T. »Aber hören Sie mal …«
Er griff zu einem Schreibblock, füllte ein Formular aus und sagte dabei:
»Jetzt schreibe ich Ihnen eine Anweisung für einen kleinen Imbiß aus. Die Kantine liegt im sechsten Stock. Da gibt’s sogar eine Raucherabteilung. Ich unterhalte mich solange mit Kaja, aber ich schreibe erst etwas auf, wenn Sie wieder da sind. Okay?«
Er lächelte so freundlich wie möglich. Der Hausmeister zögerte, sein Blick wanderte zwischen Kaja und der Anweisung hin und her.
»Was kann ich da denn essen?« fragte er unsicher.
»Was Sie wollen. Nehmen Sie sich, worauf Sie Lust haben.«
Der Hausmeister faßte einen Entschluß und kam keuchend auf die Füße.
»Aber kein verdammtes Wort aufschreiben, solange ich weg bin. Kapiert? Kein verdammtes Wort!«
»Natürlich nicht. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Hier…«
Billy T. reichte dem Mann zusammen mit der Anweisung eine Zeitschrift.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Kajas Vater hinterließ eine spürbare Lücke. Das kleine Arbeitszimmer schien zu wachsen, nun gab es Platz für das schmächtige Mädchen, das endlich mit dem Nägelkauen aufgehört hatte. Jetzt starrte es aus zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster und schien vergessen zu haben, wo es war.
»Das mit deiner Mutter tut mir leid«, sagte Billy T. leise. »Sehr leid.«
»Mmm«, sagte Kaja und schien recht ungerührt.
»Hattest du Angst vor ihm?«
Sie fuhr herum.
»Vor meinem Vater?«
»Nein, Vor ihm.«
Sie schüttelte kurz den Kopf.
»Hast du ihn vielleicht gern gehabt?«
Billy T. mußte an den Wächter denken – er hatte vor fast genau zwei Wochen im selben Sessel gesessen wie jetzt Kaja, schwächlich und durch und durch übellaunig. Er war sicher ein Mensch gewesen, für den viele nur mit großer Anstrengung etwas anderes empfinden könnten als Abscheu. Aber da lag etwas im Blick des Mädchens, in den Handbewegungen, Kaja flocht die Finger ineinander und spielte an einem kleinen Ring aus schlichtem Metall herum. Noch immer schwieg sie.
»Ich sehe ja, daß du traurig bist«, sagte Billy T. »Aber wovor hast du solche Angst?«
Da geschah etwas, das Billy T. später nur mit Mühe beschreiben konnte, es ging so schnell und kam so unerwartet. Kaja machte eine totale Verwandlung durch: Sie breitete die Arme aus, starrte ihm in die Augen, erhob sich halbwegs und rief:
»Ihr glaubt, daß er das war, aber da irrt ihr euch, immer glaubt ihr von allen nur das Schlimmste, kein Wunder, daß er sich nicht getraut hat, mit euch zu reden, ihr glaubt ja doch nur, daß er es war… Dabei war das nicht Richard! Richard hat das nicht getan. Und jetzt ist er tot, und ihr glaubt …«
Sie warf sich über die Tischplatte, legte den Kopf auf die Arme und begann zu weinen.
»Es war nicht Richard, er hat nur … es liegt zu Hause in meinem Schrank, aber er war es wirklich nicht, er hat nur … es liegt in meinem Schrank, und ich weiß nicht … Richard …«
Billy T. schloß die Augen. Er merkte, wie müde er war. Wie verdammt satt er das alles hatte. Aus irgendeinem Grund dachte er an Truls. Das Bild des kleinen Jungen, der tapfer versucht hatte, nicht zu weinen, während sein Arm eingegipst wurde, ging ihm nicht aus dem Kopf, und er fuhr sich über die Augen, um sich davon zu befreien. Dann öffnete er die Augen und blickte Kaja schweigend an.
Wie viele junge Menschen wohl noch in diesem schlichten, häßlichen Büro im zweiten Stock des Polizeigebäudes sitzen und ihre mehr oder weniger blutigen Tränen vergießen würden, bis dieser Fall gelöst wäre?
Billy T. dachte an seinen jüngsten Sohn und daran, daß das Leben nie wieder so sein würde wie vorher. Norwegen würde nie wieder so sein wie früher. Hier saß dieses Mädchen – ein kleines, vernachlässigtes Menschenkind – und besaß vermutlich den Schlüssel zu
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