Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Streß und war vor allem nervös, weil das Kind noch immer nicht gekommen war.
Das Opfer hatte zwei Identitäten: die Ministerpräsidentin Birgitte Volter und der Privatmensch Birgitte. Welche von beiden war nun eigentlich ermordet worden?
Hanne lief weiter. Den Hang hinab, vorbei an dem alten Mann, der auf den Knien lag und im Boden grub; er bemerkte sie nicht einmal. Dann steigerte sie ihr Tempo.
Bei keiner dieser beiden Identitäten schien es ein Motiv zu geben. Auf jeden Fall keins, das auf der Hand lag. Hanne hielt nichts von dem internationalen Motiv, auf dem die Zeitungen weiterhin herumritten. Die Extremistenspur kam ihr wahrscheinlicher vor, obwohl der Polizeiliche Überwachungsdienst in dieser Hinsicht offenbar nicht viel zu bieten hatte. Andererseits, wer wußte schon, was die Jungs im obersten Stock so trieben.
Billy T. hatte Birgitte Volters Privatleben ganz einfach als langweilig beschrieben. Darin gab es keine Skandale, denn ihr öffentliches Leben hatte sie voll und ganz ausgefüllt. Wenn sie einen heimlichen Geliebten gehabt hatte, dann mußte das der allerheimlichste Geliebte der Weltgeschichte sein. Die Gerüchte, die ihr irgendwelche Liebschaften andichteten, waren vage und nicht zu verifizieren, und außerdem bezogen sie sich alle auf längst vergangene Zeiten.
Es hatte auch keinerlei Gründe gegeben, die Ministerpräsidentin zu ermorden. In Norwegen wurden keine Regierungsoberhäupter umgebracht. Allerdings hatte Olof Palme das vermutlich auch über Schweden gedacht, als er an jenem schicksalhaften Abend im Februar 1986 ohne Leibwächter ins Kino gegangen war.
Hanne hatte den Sofienbergpark erreicht, und es regnete nicht mehr. Sie schaute nach Westen. Die hellen Stellen am Himmel, die der alte Mann ihr gezeigt hatte, waren inzwischen größer, jetzt prangte dort schon ein kleines Stück blauer Himmel. Sie setzte sich auf eine Schaukel und bewegte sich langsam hin und her.
Die wenigen, die Zugang zum Büro der Ministerpräsidentin gehabt hatten, kamen eigentlich nicht als Mörder in Frage. Wenche Andersen hätte ihre Chefin auf kaltblütige Weise ermorden müssen, um sich damit einen Oscar als beste weibliche Nebenrolle im Umgang mit der Polizei zu verdienen. Ausgeschlossen. Benjamin Grinde? Der nach Hause ging, um alles für seinen fünfzigsten Geburtstag vorzubereiten, und laut Protokoll bei seiner Festnahme ganz ruhig geblieben war, bis er erfahren hatte, daß Birgitte Volter tot war? Auch er konnte es nicht gewesen sein. Alle anderen Mitarbeiter hatten hieb- und stichfeste Alibis. Sie waren bei Besprechungen, im Rundfunkstudio, im Restaurant gewesen.
Sie hatte sich der Lösung so nah gefühlt, als sie um den Obduktionsbericht gebeten hatte. Eine ganze schlaflose Nacht hatte sie mit diesem Gedanken gekämpft: Selbstmord, ganz einfach. Aber wie sollte ein Selbstmordopfer die eigene Tatwaffe entfernen, um sie dann einige Tage später per Post an die Polizei zu schicken? Hanne Wilhelmsen glaubte nicht an ein Leben nach dem Tode. Und schon gar nicht an ein dermaßen aktives Leben. Sie hatte sich im Bett hin und her geworfen und immer neue Theorien aufgestellt. Aufgeregt hatte sie darum gebeten, den Obduktionsbericht lesen zu dürfen. Aber der hatte ihre Theorie gleich wieder ruiniert. Niemand kann Selbstmord begehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Der Obduzent hatte Birgitte Volters Hände auf Spuren untersucht, die auf einen Kampf hingedeutet hätten, und auf andere Anzeichen, die einen Selbstmord ausschließen könnten. Und die hatte er gefunden: An ihren Händen hatte es keinerlei Schmauchspuren gegeben. Und damit war diese Theorie eingestürzt wie ein Kartenhaus.
Hanne Wilhelmsen mochte nicht mehr joggen. Sie machte sich auf den Heimweg, zur Stolmakergate 15 und Billy T.s seltsamer Behausung.
Würde die Frage, warum die Waffe der Polizei geschickt worden war, das Mordrätsel lösen können? Gab es jemanden, der der Polizei gern etwas erzählt hätte?
Gereizt schüttelte Hanne den Kopf. Wieder geriet alles in Unordnung, die Gedanken wirbelten durcheinander, ohne in dem unklaren Muster, an dem sie während des geamten Wochenendes gewebt hatte, einen passenden Platz zu finden.
Der Mord an Birgitte Volter war ein Fall ohne Motiv. Auf jeden Fall war kein Motiv zu sehen. Noch nicht. Was hatten sie überhaupt? Nur eine exklusive Sammlung verschwundener Gegenstände und eine Tote. Sie hatten einen gereinigten Revolver unbekannter Herkunft. Die ballistischen Untersuchungen hatten ergeben,
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