Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
auf der anderen saß ein tiefernster Benjamin Grinde. Hinter dem Kind hockte mit einem strahlenden Lächeln und einer Hand unter dem Kopf des Kindes ein breitschultriger Mann, den Liten Lettvik sofort erkannte: Roy Hansen.
»Wer ist dieses Kind?«
Lerche Grinde schaute sie verwirrt an.
»Das Kind? Aber das ist doch Liv.«
»Liv?«
»Ja, die kleine Tochter von Birgitte und Roy.«
»Die Tochter? Aber sie haben doch nur ein Kind. Einen Jungen, nicht wahr? Per.«
»Per ist doch erst Anfang Zwanzig«, erklärte Lerche Grinde. »Und das hier war 1965. In diesem Jahr ist die kleine Liv gestorben. Eine entsetzliche Tragödie. Einfach so …«
Sie versuchte, mit den Fingern zu schnipsen.
»Ohne irgendeine Ursache. Wir haben alle so darunter gelitten. Die armen alten Volters, das hat sie krank gemacht. Nur gut, daß Birgitte so jung war. Und Roy natürlich auch, obwohl ich eigentlich nie begriffen habe, was Birgitte an ihm gefunden hat. Aber junge Leute, wissen Sie … junge Leute kommen immer wieder auf die Beine. Und Ben, der liebe Junge. Er war außer sich. Der arme Ben. Er ist so empfindsam. Das war sein Vater auch. Er war Fotograf, wissen Sie, und eigentlich eine Künstlernatur.«
»Und das war also 1965, haben Sie gesagt«, sagte Liten Lettvik und schluckte. »Wie alt war das Kind?«
»Nur drei Monate. Die arme Kleine. Ein wunderbares Kind. Bezaubernd. Sie war zwar nicht gerade geplant, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Lerche Grinde zwinkerte kurz mit dem rechten Auge.
»Aber sie war ein kleiner Sonnenschein. Und dann starb sie einfach. Plötzlicher Kindstod. Heißt das nicht heutzutage so? Wir haben es einfach als Tragödie bezeichnet. Damals gab es nicht so viele schöne Wörter, wissen Sie.«
Liten Lettvik hustete heftig, ein lautes, heiseres Husten, schlug sich beide Hände vor den Mund und keuchte:
»Könnte ich wohl einen Schluck Wasser haben?«
Lerche Grinde wirkte ganz verstört, als sie in die Küche lief.
Liten hustete weiter. Gleichzeitig packte sie das Album und ließ es in die große Tasche fallen, die sie immer bei sich hatte. Mit einem letzten, wilden Aufhusten schloß sie den Reißverschluß.
»Hier«, zwitscherte Lerche Grinde, die mit einem Kristallrömer aus der Küche zurückgekommen war. »Trinken Sie aber ganz vorsichtig. Rauchen Sie, Frau Lettvik? Das sollten Sie sich abgewöhnen.«
Liten Lettvik schwieg und leerte das Glas.
»Danke«, murmelte sie. »Jetzt muß ich aber gehen.«
»Schon?«
Lerche Grinde konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.
»Aber Sie kommen vielleicht wieder? Ein andermal?«
»Natürlich«, beteuerte Liten Lettvik. »Aber jetzt muß ich los.«
Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, sich schnell noch eins von den leckeren Broten zu schnappen. Aber dann riß sie sich zusammen. Irgendwo mußte es schließlich Grenzen geben.
Montag, 14. April 1997
2.00, Redaktion der Abendzeitung
Liten Lettvik beugte sich über den Bildschirm des Computers und studierte den Entwurf der nächsten Titelseite. Vor allem war sie mit dem Foto zufrieden, dem Hochzeitsbild von Birgitte Volter und Roy Hansen, aufgenommen von Benjamin Grindes Vater, dem Fotografen Knut Grinde.
»Woher hast du eigentlich diese Bilder?« murmelte der Endredakteur.
Er rechnete nicht mit einer Antwort und bekam auch keine. Liten Lettvik lächelte nur nachsichtig und bat um einen Ausdruck.
»Den kannst du dir selber machen«, sagte der Kollege sauer.
Aber nichts konnte Liten Lettvik in dieser Nacht aus ihrer guten Laune bringen. Sie lief in ihr Büro und klickte sich in ihrem Computer zur nächsten Ausgabe durch.
Jugendfreund untersucht Familientragödie
Bislang unveröffentlichte Bilder der Ministerpräsidentin Birgitte Volter
Von Liten Lettvik. Foto: Privat
Als einzige Zeitung zeigt die AZ heute bislang unbekannte Seiten der verstorbenen Ministerpräsidentin Birgitte Volter. Die Bilder aus Volters Jugendzeit sind noch nie veröffentlicht worden.
Gänzlich unbekannt war auch, daß Birgitte Volter und ihr Mann Roy Hansen 1965 unter tragischen Umständen ihre drei Monate alte Tochter Liv verloren haben. Birgitte Volter war bei der Geburt ihres Kindes erst neunzehn, konnte aber dennoch ihr Abitur machen. Studiert hat sie bekanntlich nicht, zwei Monate nach Livs Tod nahm sie ihre Berufstätigkeit als Sekretärin in einer staatlichen Spirituosenhandlung auf. Erst 1975 kam ein weiteres Kind zur Welt, Per Volter, der derzeit die Unteroffiziersschule besucht. Die Familie hat sich
Weitere Kostenlose Bücher