Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
oder?«
Drei andere Richter nickten kurz.
»Ich habe ihn auch nicht gesehen«, sagte Richter Sunde und rückte seinen kreideweißen Kragen zurecht.
»Ich auch nicht«, fügten die beiden anderen wie aus einem Munde hinzu.
»Aber er soll doch heute nachmittag sein Votum vortragen«, sagte Richter Løvenskiold. »Wir haben für sechzehn Uhr einen Termin. Das ist wirklich …«
»Seltsam«, fügte einer der anderen hinzu. »Ausgesprochen seltsam.«
Der Gerichtspräsident erhob sich und ging müde zu dem Telefon neben der Eingangstür. Nach einem kurzen, leisen Gespräch legte er auf und drehte sich zu den anderen um.
»Das ist wirklich besorgniserregend«, sagte er laut. »In seinem Vorzimmer sagen sie, daß sie ihn heute wie immer erwartet haben, daß er aber noch immer nicht gekommen ist. Und abgemeldet hat er sich auch nicht.«
Die Richter starrten in ihre Teetassen.
»Ich muß etwas unternehmen«, murmelte der Gerichtspräsident. »Und zwar sofort.«
Konnte Benjamin Grinde krank geworden sein? Es sah ihm einfach nicht ähnlich, unentschuldigt im Gericht zu fehlen. Der Gerichtspräsident ging in sein eigenes Büro und wählte Grindes Privatnummer. Er wußte, daß der Apparat in der Odins gate 3 jetzt klingeln müßte, aber der Lärm traf offenbar auf taube Ohren. Er gab auf und legte den Hörer vorsichtig wieder auf die Gabel.
Er hatte noch zwei Telefonnummern von Grindes Mutter, seiner nächsten Angehörigen. Eine im Ausland, die Landesvorwahl sagte dem Gerichtspräsidenten jedoch nichts. Die andere Nummer begann wie alle Osloer Nummern mit 22. Diese Nummer wählte er, langsam und sorgfältig.
»Hallo, hier Grinde«, wurde am anderen Ende der Leitung gezwitschert. »Womit kann ich behilflich sein?«
Der Gerichtspräsident stellte sich vor.
Lerche Grinde fühlte sich obenauf. Am Vortag hatte sie Besuch von einer Journalistin gehabt, heute rief der Präsident des Obersten Gerichts persönlich an.
»Nein, wie reizend«, kreischte sie, und der Gerichtspräsident mußte den Hörer sofort von seinem Ohr weghalten. »Womit kann ich Ihnen denn behilflich sein?«
Er erklärte ihr sein Problem.
»Ich kann mir nur vorstellen, daß Ben Ruhe braucht«, sagte sie beruhigend. »Er ist so erschöpft, wissen Sie. Diese Sache mit der Polizei hat ihm entsetzlich zu schaffen gemacht. Ich weiß ja nicht, ob Ihnen das aufgefallen ist, aber er ist ja so empfindsam, wissen Sie. Das liegt in der Grinde-Familie. Sein Vater zum Beispiel …«
Der Gerichtspräsident fiel ihr ins Wort.
»Sie glauben also, daß er vielleicht einfach nur schläft? Aber er hat nicht Bescheid gesagt.«
»Wir wissen beide, daß das Ben überhaupt nicht ähnlich sieht. Aber vielleicht hat er verschlafen. Ich kann …«
Sie unterbrach sich kurz, aber wirklich nur kurz.
»Ich kann heute nachmittag in seiner Wohnung vorbeischauen. Das schaffe ich vor dem Theater gerade noch. Ich muß gleich zum Friseur, wissen Sie, aber heute nachmittag …«
»Danke«, abermals fiel er ihr ins Wort. »Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden.«
»Natürlich«, sagte Lerche Grinde, und der Gerichtspräsident glaubte aus ihrer Stimme eine leichte Pikiertheit herauszuhören.
»Adieu«, sagte er und legte auf, ehe sie noch etwas sagen konnte.
17.30, Gesundheitsministerium
»Aber das kann ich doch machen, meine Liebe.«
Die Sekretärin der Gesundheitsministerin sah entsetzt aus, als ihre Chefin sich über das Faxgerät beugte und mit zusammengekniffenen Augen zu begreifen versuchte, wie es funktionierte.
»Das sind Privatsachen«, kläffte Ruth-Dorthe Nordgarden und wies die nervöse Sekretärin aus dem Zimmer.
Endlich war das Fax dann verschickt, und Nordgarden ging mit dem Original wieder in ihr Büro.
»Schicken Sie sie rein«, befahl sie einer ihrer Vorzimmerdamen, ehe sie sich ans Kopfende des Besprechungstisches in ihrem Büro setzte, eine halbe Stunde nachdem die Besprechung hätte anfangen sollen.
Niemand derjenigen, die hereinkamen, sah sie an. Die Stimmung war gedrückt. Die Ministerin lächelte angespannt und bat die anderen, Platz zu nehmen.
»Ich muß als erstes sagen, daß ich mich mit diesen Dingen nicht auskenne«, sagte sie. »Versuchen Sie also, sich klar auszudrücken. Also, fangen wir an. Nein, Moment mal.«
Sie starrte die anderen an und fragte: »Wo ist Grinde? Ist der noch nicht da?«
Dann schaute sie auf die Uhr.
Die anderen wechselten überraschte Blicke.
»Ich bin davon ausgegangen«, sagte Ravn Falkanger, ein älterer
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