Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Professor der Pädiatrie, »ich dachte, Richter Grinde sei bereits zu einer Vorbesprechung…«
»Keineswegs«, fiel Ruth-Dorthe Nordgarden ihm ins Wort. »Ich weiß von keiner Vorbesprechung.«
Noch einmal schaute sie demonstrativ auf die Uhr; sie zog an ihrem Jackenärmel und hob den Arm unnötig weit.
»Na gut. Wenn er nicht kommt, müssen wir eben einfach anfangen. Ich habe das hier gelesen.«
Sie schwenkte den elfseitigen Bericht, den sie am selben Morgen von der Sekretärin der Kommission erhalten hatte, einer wissenschaftlichen Assistentin, die unglücklich und viel zu jung wirkte.
»Und ich muß sagen, daß diese vielen medizinischen Fachausdrücke mir das Verständnis doch sehr erschweren.«
Der ältere der beiden Männer, Edward Hansteen, Professor der Toxikologie, räusperte sich kurz.
»Das liegt daran, Frau Ministerin, daß sich die Arbeit der Kommission nach und nach in eine andere Richtung verlagert hat, als es ursprünglich geplant war. Auf unserer Seite gibt es inzwischen den Wunsch, auch ausländische Archive einzubeziehen. Darüber wollte Benjamin Grinde mit Ihnen sprechen, aber, wenn ich das richtig verstanden habe …«
Wieder räusperte er sich, diesmal etwas stärker, und starrte auf seine Papiere.
»Ich habe das so verstanden, daß Ihre sonstigen Verpflichtungen eine solche Besprechung mit Herrn Grinde nicht zugelassen haben. Ich nehme an, deshalb hat er sich an Ministerpräsidentin Volter gewandt. Sie verstehen, Frau Ministerin … Es geht um eine so brisante Angelegenheit, daß Herr Grinde bereits vorher mit der politischen Leitung darüber sprechen wollte.«
In der peinlichen Pause, die auf diese Aussage folgte, brach der Kommissionssekretärin der Schweiß aus. Vergeblich versuchte sie, die Schweißperlen auf ihrer Stirn unter ihren langen blonden Haaren zu verbergen.
»Nun ja«, sagte Ruth-Dorthe Nordgarden. »Das ist doch eigentlich alles Schnee von gestern. Sprechen wir doch über das Hier und Jetzt.«
Wieder nickte sie Dr. Hansteen zu.
Die Besprechung dauerte eine Dreiviertelstunde. Die Stimmung besserte sich nicht. Alle sprachen gedämpft, nur die Ausrufe »das verstehe ich nicht ganz« oder »können Sie das bitte wiederholen« der Ministerin und Edward Hansteens gleichmäßige, sonore Stimme waren etwas lauter. Die Sozialmedizinerin Synnøve von Schallenberg löste ab und zu ihren Kollegen ab, ebenfalls mit besorgter Miene und raschen Seitenblicken auf die Ministerin.
»Wie Sie sicher verstehen«, schloß Dr. Hansteen, »stehen wir vor dem Ergebnis, daß wahrscheinlich ziemliche Ungeheuerlichkeiten stattgefunden haben.«
Diese Aussage unterstrich er durch dreimaliges Klopfen auf seine Unterlagen.
Ruth-Dorthe Nordgarden starrte den Bericht an, den sie an diesem Morgen erhalten hatte. Sie hatte ihn gelesen. Aber vielleicht nicht sonderlich gründlich. Nicht gründlich genug. Nie im Leben hätte sie ihn an Liten Lettvik faxen dürfen. Und schon gar nicht vom Büro aus. Ob sich das nachweisen ließe?
Sie schnitt eine für die anderen unbegreifliche Grimasse und zupfte sich an den Haaren.
»Ja, aber …«
Ihre Mundwinkel zitterten heftig.
»Bedeutet das Ärger, rein politisch gesehen?«
Die wissenschaftliche Assistentin vertiefte sich in die Maserung der Tischplatte, die anderen tauschten verlegene Blicke. Gesundheitsministerin Ruth-Dorthe Nordgarden begriff eine Sekunde zu spät, daß sie zu weit gegangen war. Die Kommission war nicht hier, um ihr politisch behilflich zu sein, sondern um ihr die Tatsachen vorzulegen.
»Sie können gehen«, sagte sie. »Danke für …«
Der Rest verschwand im Scharren der Stuhlbeine, als die Versammlung sich erhob. Die Kommissionssekretärin stieß dabei zu allem Überfluß ihren Stuhl um. Ruth-Dorthe Nordgarden stand tatenlos und mit Tränen in den Augen da. Aber das fiel niemandem von den anderen auf.
19.30, Stolmakergate 15
Obwohl es phantastisch war, daß Hanne Wilhelmsen bei ihm wohnte, genoß Billy T. es jetzt, ganz allein zu sein. Niemand zwang ihn, sich die Fernsehnachrichten anzusehen, und er konnte lauwarme Eintöpfe aus der Dose essen, ohne daß irgendwer die Nase rümpfte. Es war so praktisch: Er hielt einfach die Dose unter fließendes heißes Wasser und schwupp, schon war der Tisch gedeckt.
Er hatte sich den Sitzsack aus dem Schlafzimmer geholt, denn er hatte sich noch nicht so recht an das blaue Sofa gewöhnen können. Er lag mit dem Rücken auf dem Sack und streckte Arme und Beine nach allen Seiten aus. Es
Weitere Kostenlose Bücher