Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
auffälligste.
Können wir die Wahrheit ertragen?
Norwegen ist in der letzten Woche von Ereignissen heimgesucht worden, die sich in ihren dramatischen Auswirkungen mit nichts in der norwegischen Nachkriegsgeschichte vergleichen lassen. Am vergangenen Freitag wurde Ministerpräsidentin Volter in ihrem Büro erschossen aufgefunden. Gestern abend fand man einen Richter des Obersten Gerichts tot in seiner Wohnung.
Diese Ereignisse lassen sich natürlich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Manche werden sicher die Augen verschließen und sich einreden, daß auch Personen in leitenden Positionen der allgemeinen Gewalteskalation in unserer Gesellschaft zum Opfer fallen, gegen die unsere Politiker ja offenbar erfolglos ankämpfen. Eine solche Betrachtungsweise wäre naiv und würde die wahren Ereignisse verschleiern, statt sie ans Licht zu bringen.
Die norwegische Presse hat während der letzten Woche zahllose Theorien lanciert, laut denen die norwegische Ministerpräsidentin das Opfer von internationalen Terrororganisationen geworden sein soll. Aber wenn wir uns zu sehr auf diese Möglichkeit konzentrieren, besteht die Gefahr, daß wir für näherliegende Erklärungen blind werden.
Die AZ hat als einzige Zeitung selbständig die Umstände von Birgitte Volters Tod untersucht. Wir haben uns nicht damit begnügt, lediglich die offiziellen Verlautbarungen abzudrucken, mit denen die Polizei die Allgemeinheit abzuspeisen versucht. Durch unseren eifrigen Einsatz konnten wir an die Öffentlichkeit bringen, daß Benjamin Grinde vermutlich der letzte war, der die Ministerpräsidentin lebend gesehen hat. Wir haben ans Tageslicht gebracht, daß er einige Stunden lang des Mordes an Volter verdächtigt wurde. Später haben wir nachweisen können, daß sehr enge Verbindungen zwischen Richter Grinde und der Ministerpräsidentin bestanden haben. Heute nun können wir die Tatsache enthüllen, daß die Grinde-Kommission höchst bedenkliche Verhältnisse im norwegischen Gesundheitswesen aufgedeckt hat. Die entscheidende Frage ist jetzt: Wagen Politiker, Presse und Polizei, aus den nunmehr offengelegten Fakten die nötigen Schlußfolgerungen zu ziehen?
In einer schweren Zeit wie dieser muß sich Norwegen als Rechtsstaat erweisen. Wenn wir diese Prüfung bestehen wollen, brauchen wir klare Grenzen zwischen Presse, Polizei, Gerichten und Politikern. Das erfordert vor allem eine Presse, die bereit ist, den Mund aufzumachen und die Wahrheit zu suchen, egal, was die etablierten Instanzen davon halten.
Wir müssen von anderen Ländern lernen, die ähnliche nationale Traumata verarbeiten mußten. Schweden hat das vor elf Jahren erlebt, als Olof Palme auf offener Straße erschossen wurde. Während der ersten Zeit konzentrierten sich die Ermittlungen fast ausschließlich auf die sogenannte »Kurdenspur«. Andere Möglichkeiten wurden erst in Betracht gezogen, als es schon zu spät war. Die Ermittlungen haben unter fehlender Professionalität und vorgefaßten Meinungen gelitten. Und das hat dazu geführt, daß Schwedens nationales Mordrätsel wohl nie gelöst werden wird.
Belgien wurde erst kürzlich von einem Pädophilieskandal mit Verzweigungen bis tief hinein in Polizei und vermutlich auch Politik erschüttert. Die Hohenpriester der Macht waren so eng miteinander verbunden, daß sie die Aufklärung dieser grauenhaften Verbrechen jahrelang behindern konnten.
Wir müssen dafür sorgen, daß etwas Vergleichbares hierzulande unmöglich bleibt.
Die Informationen, die die AZ heute als einzige Zeitung dem norwegischen Volk vorlegen kann, zeigen, daß die überdurchschnittlich hohe Sterblichkeit von Säuglingen im Jahre 1965 vermutlich auf gravierenden Fehlern staatlicher Stellen beruhte. Das Staatliche Institut für Volksgesundheit hat tödliche Impfstoffe an vermutlich mehrere hundert Kinder verteilt. Eine staatliche Behörde hat einen Massenmord in die Wege geleitet und verwaltet.
Die wichtigste Politikerin des Landes und der Vorsitzende der Kommission haben nachweislich vor einer guten Woche über diesen Skandal gesprochen. Jetzt sind beide tot. Sind wir bereit, der Wahrheit ins Auge zu sehen?
Hanne Wilhelmsen hatte zum ersten Mal seit langer Zeit Lust auf eine Zigarette. Der Besitzer des kleinen Cafés hatte offenbar noch nie vom allgemeinen Rauchverbot gehört, alle Gäste pafften an ihren Glimmstengeln. Von dem Gesundheitsskandal hatte sie zum erstenmal gehört, kurz bevor sie in die USA gegangen war. Und sie hatte natürlich
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