Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
gewußt, daß Grinde die Kommission leiten sollte. Und daß er Volter an ihrem Todestag besucht hatte. Aber hatte dieser Besuch etwas mit dem Mord zu tun?
Wieder starrte sie ihre Serviette an. Das Muster war unbegreiflicher denn je. Vorsichtig zeichnete sie ein kleines Kreuz über den Wächter. Die Linie zwischen Benjamin Grinde und Birgitte Volter wurde verstärkt, wobei das weiche Papier zerriß. Aber der Wächter wollte nicht verschwinden. Sie strich ihn ganz durch, aber nun stimmte die Zeichnung erst recht nicht mehr. Irgend etwas wollte die Skizze ihr verraten. Hanne begriff nur nicht, was. Ihre Kopfschmerzen stellten sich wieder ein, und sie wollte nicht noch mehr Medikamente nehmen.
»Hanne! Hanne Wilhelmsen!«
Ein Mann schlug ihr mit einer Zeitung auf den Kopf. Sie hob schützend die Arme, doch dann öffnete ihr Gesicht sich zu einem breiten Lächeln.
»Varg! Was machst du denn hier? Setz dich!«
Der Mann trug einen weiten, abgenutzten Mantel, den er mit weltmännischer Geste über die Stuhllehne warf, als er sich setzte. Dann legte er die Unterarme vor sich auf den Tisch, faltete die Hände und starrte sie an.
»Unglaublich. Du wirst im Laufe der Jahre immer hübscher.«
»Was machst du denn hier? Ich dachte, du verläßt die schöne Stadt zwischen den sieben Bergen nur im alleräußersten Notfall.«
»Im Siebengebirge, Hanne, nicht die sieben Berge. Eine verdammt komische Sache bringt mich her. Ein junger Ausreißer, den niemand haben will und der offenbar das reinste Computergenie ist. Das Jugendamt findet immer wieder seine Spuren im Internet, aber sie haben keine Ahnung, wo er steckt. Er ist zwölf.«
Er winkte dem Wirt und bat um Kaffee.
»Nimm lieber Tee«, flüsterte Hanne.
»Den Teufel werd ich tun. Morgens brauch ich meinen Kaffee. Und du? Was machst du so?«
Varg und Hanne wußten nicht, woher sie einander kannten. Er war Privatdetektiv und kam nur selten nach Oslo. Sie waren entfernte Bekannte, und zweimal hatten sie beruflich miteinander zu tun gehabt. Sie waren einander auf den ersten Blick sympathisch gewesen, was sie beide gleichermaßen überrascht hatte.
»Ich bin eigentlich beurlaubt«, sagte Hanne, ohne das weiter zu erklären. »Aber ich beschäftige mich trotzdem ein wenig mit dem Fall Volter. Das kann ich einfach nicht lassen.«
»Bemerkenswert, was heute in den Zeitungen gestanden hat«, sagte er und nickte zu den wild auf dem Tisch herumliegenden Blättern hinüber. »Dieser Gesundheitsskandal scheint ja wirklich ein ziemlicher Hammer zu sein.«
»Ich bin eigentlich noch nicht weit gekommen«, sagte Hanne. »Worum geht es denn da?«
»Ach«, sagte er, während er ungeduldig nach dem Wirt winkte. »Offenbar ist damals eine außergewöhnlich große Anzahl von Säuglingen an ›plötzlichem Kindstod‹ gestorben. Das scheint eine Art Reservediagnose zu sein, wenn alle anderen Todesursachen ausgeschlossen werden können. Alle Kinder hatten dieselbe Impfung hinter sich. Eine Dreifachimpfung im Alter von drei Monaten. Und der Impfstoff war offenbar …«
Er riß die AZ an sich und blätterte eifrig darin, während er sich immer wieder den Zeigefinger anfeuchtete.
»Verunreinigt. Hier steht’s: ›Vermutlich handelt es sich um ein Derivat des Konservierungsmittels.‹ Das Derivat ähnelt dem Wirkstoff des Impfmittels, hat aber eine ganz andere Wirkung. Es kann die Herzen der Säuglinge angegriffen und zum Stillstand gebracht haben.«
»Zeig mal«, sagte Hanne und nahm ihm die Zeitung weg.
Mehrere Minuten war sie dann in den Artikel vertieft, und Varg hatte schon die halbe Tasse Kaffee ausgetrunken, als sie wieder aufblickte.
»Das ist ja verdammt ernst«, sagte Hanne leise und faltete die Zeitung zusammen. »Sie wissen ja nicht mal, wo sie den Impfstoff herhatten.«
»Nein, und auch das ist ein Skandal. Die Kommission hat offenbar darum gebeten, in ausländischen Archiven weiterforschen zu dürfen. Die hierzulande vorhandenen Unterlagen weisen bedauerliche Mängel auf. Aller Wahrscheinlichkeit nach stammte der Impfstoff aus irgendeinem Uga-Buga-Land, wo sie sich mit Hygiene einfach nicht richtig auskannten.«
Er kippte den Rest seines Kaffees hinunter und sprang auf.
»Ich muß los. Aber hör mal.«
Er zögerte kurz, dann lächelte er und sagte:
»Ich werde im Herbst fünfzig. Kannst du dann nicht mal nach Bergen kommen? Ich möchte ein bißchen feiern.«
»Im Herbst bin ich in den USA«, bedauerte Hanne und machte eine resignierte Handbewegung. »Aber ich
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