Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
er das wüsste. Beinahe kann ich seine Stimme hören … Weißt du überhaupt, was du tust, Kara … Unterkühlung … keine Rettungsweste … und dann noch ganz alleine! Ich ignoriere ihn, schwimme weiter und halte mich an den von Seepocken überwucherten Felsen fest, an denen ich vorüberschramme.
Das Geheul einer Auto-Alarmanlage und das Rumpeln eines fernen Lastwagens durchdringen die Nacht und verhallen über dem Meer. Aber diese Geräusche gehören fast zu einer anderen Welt, nicht zu meiner.
Alles scheint in der Nacht weiter entfernt. Ich denke schon, ich bin am Blauen Bassin vorbeigeschwommen, da sehe ich vor mir Licht und zwei Kuppelzelte, auf deren Dächern sich das Mondlicht spiegelt.
Selbst bei Flut ist das Wasser unterhalb des Beckens seicht und von Felsen übersät. Jetzt aber, wo die Flut langsam verebbt, ragt die Kante der Betoneinfassung aus dem Wasser. Ich weiß nicht, ob die Delfinmutter nahe genug heranschwimmen kann, um ihr Kälbchen zu sehen.
»Pffwuuuusch!« Die Delfinmutter taucht auf und hebt ihren Kopf über das Wasser.
Ich halte mich an einem Felsen fest und lausche in die Stille.
Als Antwort ertönt ein anderes »Pffwuuuusch«.
Die Mutter schlägt so mit der Schwanzflosse aus, dass dasGeräusch übers Wasser hallt. Dann öffnet sie das Maul und ein Schwall von Pfiffen und Klicklauten dringt hinaus in die Nacht.
Jetzt höre ich vom Bassin her Stimmen, menschliche Stimmen.
»Hey, Greg!« Das ist Carl, der wohl die Nachtschicht macht. »Da draußen ist was.«
Ich verziehe mich in die Schatten der Felsen. Carl soll mich hier nicht entdecken. Ich sehe seine Silhouette am Beckenrand. Er schaut hinunter ins Wasser.
»Da ist noch ein Delfin!«, ruft Carl. »Hol die Taschenlampe. Wollen mal sehen, ob das die Mutter ist.«
Der Strahl einer Taschenlampe sucht die Wasseroberfläche ab und findet den Delfin. Der Strahl folgt dem Rückenbogen bis zur tiefen Kerbe in der Rückenflosse.
»Sie ist es! Sie ist okay!«, ruft Greg.
»Kara hatte recht.« Carl flüstert beinahe.
Ich spitze die Ohren, um auch den Rest zu hören.
»Sie hat gewusst, dass die Delfinmutter so lange sucht, bis sie ihr Kalb gefunden hat.«
Kapitel 24
»Wach auf, Kara! Wach auf !«
Ich spüre kleine Finger, die in meinem Gesicht herumfummeln.
»Wach auf ! Du hast das Frühstück verpasst. Zeit, zur Schule zu gehen!«
Ich öffne die Augen und schiebe die Hände weg. Daisy sitzt auf meinem Campingbett und starrt mich an.
»Du hast ja eine Ewigkeit geschlafen!«, sagt sie.
Ich ziehe mich hoch und bin noch ganz benebelt. Meine Beine tun mir weh und in meinem Kopf geistert noch der Traum von vergangener Nacht herum.
Daisy streckt die Hand aus. »Warum sind deine Haare nass?«
Ich fahre mir mit der Hand über den Kopf und sehe den dunklen Fleck auf dem Kissen. Meine Kleidung liegt in einer Wasserpfütze auf dem Boden. Ich war vergangene Nacht tatsächlich dort. Ich schwinge mich aus dem Bett. »Die Delfinmutter ist zurückgekommen. Ich hab sie gesehen, letzte Nacht.«
»Du hast sie gesehen ?« Daisys Augen werden groß.
Ich fasse Daisy an beiden Händen. »Verrat’s nicht deiner Mutter, bitte, Daisy, verrat’s ihr nicht.«
Ich ziehe meine Schulkleidung an, packe meine Tasche und renne hinunter in die Küche.
Tante Bev brät gerade Speck in der Pfanne. Als sie mich sieht, spöttelt sie: »Tja, jetzt musst du dein Sandwich wohl auf dem Weg zur Schule essen.«
Ich nehme mir eine Scheibe Brot aus der offenen Packung.
Onkel Tom sitzt müde und unrasiert am Tisch, in Hemd und Ölzeughose. Die Hosenträger hängen ihm lose um die Hüfte. Er neigt sich nach vorn und nimmt den Kopf zwischen die Hände.
»Kara, setz Wasser auf und koch deinem Onkel einen Kaffee«, sagt Tante Bev.
Ich fülle den Wasserkocher mit kaltem Wasser aus der Leitung. Daisy versucht, auf Onkel Toms Knie zu klettern, aber er zieht sie herunter. »Mach dich fertig, Daisy, sonst kommst du zu spät zur Schule!«
Er sagt es im ruppigen Ton, der überhaupt nicht nach Onkel Tom klingt. Ich gieße ihm kochendes Wasser in die Tasse und sehe zu, wie der Pulverkaffee umherwirbelt. Tante Bev lässt Onkel Tom nicht aus dem Auge. So ist es immer, wenn er Geld nach Hause bringt – seinen Anteil vom Erlös des Fischfangs.
Onkel Tom lehnt sich zurück und öffnet die Handflächen. Sie sind leer. »Es gibt nichts, Bev«, sagt er. »Französische und spanische Boote fischen im selben Fanggebiet wie wir. Wirhaben mehr Geld für Diesel verbraucht, als wir durch
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