Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
möchte«, sage ich und zögere, »ich möchte, dass du nachschaust.«
Felix nickt. Ich lege den Stick in seine ausgestreckte Hand.
Vielleicht ist es genau das und nichts anderes.
Erinnerungen.
Erinnerungen eines Menschen, die darauf warten, entschlüsselt zu werden.
Wir sind spät dran mit unserem Essen. Tante Bev hat sich in ihrem Hausmantel auf dem Sofa ausgestreckt und sieht eine Talentshow im Fernsehen. Ihr Bauch ist jetzt so gewaltig, dass ich das Gefühl habe, er würde jeden Moment platzen.
Daisy holt Teller aus dem Küchenschrank. »Das mit deiner Halskette tut mir leid.«
Ich verteile die Gabeln. »Halb so wild.«
»Was hat sie gesagt?«, fragt Daisy. »Was hat die Vogellady gesagt?«
Ich klopfe den Ketchup mitten auf den Teller. »Sie hat gesagt, dass die Delfine die Engel des Meeres sind.«
Daisy bleibt plötzlich stehen, mit dem Teller in der Hand. »Richtige Engel?«
»Sei nicht albern, Daisy«, schnaube ich und reiße die fettfleckige Fish-’n’-Chips-Schachtel auf. »Das sind nur Delfine. Säugetiere – wie wir.«
Dad nimmt am Tisch Platz und gähnt, unter den Augen hat er dunkle Ringe. Ich habe ihn in den vergangenen Tagen fast überhaupt nicht gesehen, weil er so viel im Pub arbeitet. Er nimmt sich ein paar Pommes und beißt hinein.
Tante Bev und Daisy setzen sich dazu.
»Tom kommt morgen nach Hause«, sagt Tante Bev. »Hoffentlich hatten sie dieses Mal einen guten Fang.«
Daisys Augen leuchten auf. »Er hat gesagt, dass er mit mir ins Kino gehen will.«
Ich streue Salz auf meine Fritten. Ich will nicht wissen, was morgen sein wird. Ich wende mich an Dad. »Können wir vor der Schule segeln gehen?«
Dad schüttelt den Kopf. »Ich mache drei Schichten hintereinander.«
»Aber wir müssen die Delfinmutter suchen«, sage ich. »Wir müssen sie finden! Wenn nicht, wird ihr Kälbchen eingeschläfert.«
Dad wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab. »Hör mal, Kara, Carl war heute draußen und hat nach ihr gesucht und Mr Andersen und Felix auch.«
»Aber wir kennen die Bucht besser als irgendeiner von ihnen! Wir finden sie.«
Dad legt das Taschentuch weg und schiebt den Teller beiseite. »Morgen hab ich keine Zeit.«
Ich spieße mit meiner Gabel ein Stück Fisch auf. »Du hast nie mehr Zeit!«
Dad blickt mich zornig an. »Das ist nicht fair, Kara. Ich muss schließlich Geld verdienen.«
»Aber wir müssen sie finden, Dad!«
Dad steht auf und wirft die fettige Pappschachtel in den Eimer. »Himmelherrgott noch mal, Kara, sie könnte überall sein. Wie sollen wir denn wissen, wo wir suchen müssen?«
Ich schiebe meinen Teller weg. »Du hast aufgegeben, wie alle anderen auch.«
Tante Bev legt die Hand auf meinen Arm. »Hör auf deinen Vater, Kara.«
Ich schiebe meinen Stuhl zurück und beachte Tante Bev nicht. »Du hast aufgegeben«, brülle ich Dad an, »wie du auch schon Mum aufgegeben hast!« Ich stürme hoch ins Zimmer, das ich mit Daisy teile. Ich lege mich angezogen aufs Bett und ziehe die Decke über den Kopf. Dad kommt herein und flüstert meinen Namen, aber ich tu so, als wäre ich eingeschlafen. Ich höre, wie die Haustür zuschlägt, als er zur Arbeit geht, und ich höre, wie der Fernseher im Erdgeschoss plärrt.
Als Daisy ins Zimmer kommt, warte ich, bis sie fertig ist, und lösche das Licht. Doch ich kann nicht einschlafen, also schlage ich die Bettdecke zurück und schaue aus dem Fenster in den Abendhimmel, der sich langsam verfinstert.
»Kara?«
Ich halte die Luft an. Ich hatte gedacht, Daisy wäre eingeschlafen.
»Ich weiß, dass du wach bist«, flüstert sie.
Ich atme langsam aus und drehe mich zur Seite.
»Wo ist sie?«, fragt Daisy. »Wo, glaubst du, dass sie ist?«
Tränen rinnen mir übers Gesicht und versickern in meinem Kissen. »Ich weiß es nicht«, sage ich, »ich weiß es einfach nicht.«
Kapitel 23
Die Sonne leuchtet strahlend hell.
Das Meer schimmert türkisblau.
Ich sitze am Strand und ziehe einen Graben um meine Sandburg. Es ist die ideale Burganlage. Drei hohe Mauertürme und eine Zugbrücke aus Treibholz. Ich habe das Ganze mit Muscheln und Seetang dekoriert. Eine Kaurimuschel auf dem Mauerturm, der dem Meer am nächsten liegt, reflektiert das Sonnenlicht. Ich schlinge die Arme um die Knie und bewundere mein Werk. Nichts kann meine Burg zerstören. Aber ich höre die Welle nicht. Sie strudelt in den Festungsgraben und überflutet die Burgmauern. Der seeseitige Turm ist der erste, der einstürzt. Er versinkt auf
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