Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
Nimmerwiedersehen in den Wellen. Die Kaurimuschel rollt über den festen, nassen Sand aufs Meer zu. Ich versuche, sie aufzuheben, aber sie schlüpft mir durch die Finger und purzelt in die schäumende Brandung.
»Komm rein, Kara!«
Mum steht im Wasser und lächelt. Der Wind weht ihr Haar nach hinten. Ich kann sogar die Sommersprossen inihrem Gesicht und das Sonnenlicht in ihren graugrünen Augen sehen. Sie trägt das T-Shirt und die abgeschnittenen Jeans, die sie immer trägt. Um ihre Beine rollt eine Welle und braust über den Sand auf mich zu.
Mum beschattet ihre Augen. »Komm schon, Kara!«, lächelt sie. »Ich warte auf dich.«
Strahlend, strahlend hell leuchtet sie, diese Sonne.
Die Wellen gleiten über den Strand, sie kommen und gehen und kommen und gehen.
Aber ich will diese Kaurimuschel finden. Ich durchwühle die Seetanghaufen am Strand, aber alles, was ich finde, sind Bierdosenringe und Plastikflaschenverschlüsse.
Ich blicke wieder hinaus aufs Meer.
Mum ist verschwunden.
Das Mondlicht scheint durchs Fenster, strahlend, strahlend hell.
Daisy schläft und atmet leise, ein und aus und ein und aus.
Aber ich starre einfach nur auf diesen strahlend hellen Mond.
Ich sehe Mums Gesicht. Ich höre ihre Stimme.
Ich warte auf dich.
Das fühlt sich so real an.
Ich hole die Tasche mit dem Schwimmzeug unter meinem Bett hervor. Daisy schnieft im Schlaf und dreht sich zur Seite. Die Zeiger ihrer Märchenuhr sagen mir, dass es schon nach Mitternacht ist. Ich schnappe mir meine dicke Fleecejacke,schleiche auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und schlüpfe hinaus in die Nacht.
Ich muss den Delfin finden.
Ich muss einen Weg finden, mit Mum zu sprechen.
Die Nacht ist still. Ich stehe am Meer und drücke meine Zehen in den weichen, feuchten Sand. Es gibt keine Wellen. Die Flut zieht sich zurück. Das Meer liegt glatt und schwarz vor mir, wie Öl. Ich ziehe mir die Tauchmaske über das Gesicht und schlüpfe in die Flossen. Ich schiebe die Füße Schritt für Schritt nach vorne, bis ich bis zur Hüfte im Wasser stehe. Das kalte Wasser presst sich an meine Haut, aber ich fühle mich eigentümlich weit weg, als würde mein Körper überhaupt nicht zu mir gehören.
Ich tauche unter und werde von Dunkelheit umhüllt. Ich spüre, dass ich heute Nacht weiter und tiefer tauchen kann, als würde ich zum Meer gehören und das Meer zu mir. Ich lasse die Hände über den welligen Sand unter mir gleiten und lausche der tiefen Stille unter Wasser. Ich halte die Luft an. Die Sekunden kommen mir wie Stunden vor. Mein Herzschlag verlangsamt sich. Meine Sinne treiben dahin, werden leicht und hell. Glitzernde Sterne wirbeln durch das Wasser. Irgendwas schwimmt an meiner Seite. Ein Delfin. Das Muttertier. Sein weiß schimmernder Körper leuchtet in der Dunkelheit. Seine Flossen hinterlassen Spiralen wirbelnder Sterne.
Es sieht aus, als sei es nicht von dieser Welt.
Fast wie ein Unterwasserengel.
Ich hole Atem und die Delfinmutter taucht neben mir auf.
»Pffwuuuusch!«
Der glatte, dunkle Bogen des Delfinrückens und die tiefe Einkerbung in der Rückenflosse heben sich als Silhouette gegen das Mondlicht ab. Ich wusste, dass die Mutter des weißen Delfins zurückkehren würde. Ich wusste, dass sie hierher, in die Bucht, schwimmen würde. Sie taucht wieder ab und hinterlässt eine kunterbunte Spur phosphoreszierender Lichtstrudel. Ich tauche ebenfalls und betrachte den leuchtenden Sternchenwirbel, der von meinen Fingerspitzen aus durchs Wasser perlt. Eine Million winziger Planktonteilchen erleuchten einen Unterwasserhimmel.
Wir kommen wieder an die Oberfläche und die Delfinmutter schwimmt um mich herum. Ich höre ihre Klicklaute und Pfiffe und glaube zu spüren, wie die Schallwellen, mit denen sie mich abtastet, direkt durch meinen Körper dringen. Ihre kleinen, dunklen Augen funkeln im Mondlicht. Ich kann kaum atmen. Sie ist mir nah, ganz nah. Ich strecke meine Hand aus. Sie lässt mich die weiche, warme Haut ihres Gesichts berühren.
Die Mutter taucht wieder ab und kreist um mich. Ich weiß, dass sie hier im flachen Wasser nach ihrem Kalb sucht. Wenn sie mir die Küste entlang zum Blauen Bassin folgt, kann ich sie zu ihm führen.
Ich halte mich nahe am Band dunkler Felsen, das sich in Richtung Kap zieht, und lasse die orangefarbenen Lichter des Ortes hinter mir. Die verebbende Flut wirbelt um meineBeine und ich kann ihren Sog zum offenen Meer hin spüren. Ich sollte nicht hier draußen sein. Dad würde mich umbringen, wenn
Weitere Kostenlose Bücher