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Im Zimmer wird es still

Im Zimmer wird es still

Titel: Im Zimmer wird es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Walther
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stören könnten. Schläft bald ein.
    Als er aufwacht, ist es dunkel und einen Augenblick weiß er nicht, wo er ist. Dann fällt es ihm ein. Vielleicht hat ihn ein Geräusch von Peter aufgeweckt, aber jetzt ist es still. Er versucht, wieder einzuschlafen, aber es gelingt ihm nicht, er wird nur wacher. Den Wecker kann er nicht sehen, weiß nicht, wie spät es ist. Wahrscheinlich ist es mitten in der Nacht, die Dunkelheit ist zu schwarz, um den Morgen ahnen zu lassen. Er liegt ganz ruhig da, will nicht, dass Peter wegen ihm wach wird.
    Er könnte ins Gästezimmer gehen, um es dort mit Einschlafen zu versuchen, aber er hat keine Lust aufzustehen. Sein Geist ist quälend munter. Es ist still im Zimmer. Er kann Peters gleichmäßigen, flachen Atem hören. Darauf konzentriert er sich, und das entspannt ihn. Es ist lange her, dass er nachts wachgelegen und dem Atem eines anderen Menschen gelauscht hat. Dieses Geräusch ist eine seiner frühesten Erinnerungen. Er war vier oder fünf, lag in dem großen Bett, lauschte auf die Schlafgeräusche seiner Mutter. Manchmal hörte er sie auch leise schluchzen.
    Er weinte nicht, er konnte nur nicht einschlafen. Er stellte sich vor, was sein Vater sagen würde, wenn er wiederkäme, was er für Geschenke mitbrächte und was er mit ihm unternehmen würde. Diese Vorstellungen waren so real für ihn, dass er morgens erst mal eine Weile brauchte, bis er realisierte, dass sie nur seiner Fantasie entsprungen waren.
    Als er begriff, dass sein Vater nicht wiederkommen würde, wurde das Verhältnis zu seiner Mutter sehr eng. Sie hatten nur einander und seine Mutter suchte ebenso Halt bei ihrem Kind wie er bei ihr. Zwei- oder dreimal brachte sie einen Mann mit. Nette, ausnahmslos farblose Männer, denen gegenüber er sich stets brav und höflich benahm. Aber lange blieben diese Männer nie und sie störten auch nicht ihr enges, vertrautes Verhältnis.
    In der sechsten Klasse bekam er einen Lehrer, der Geschichte und Deutsch unterrichtete, und den er sehr bewunderte. Der Lehrer war Anfang dreißig, was ihm ungeheuer alt und weise vorkam. Er hing an seinen Lippen, lernte übereifrig, klassifizierte die verschiedenen Arten seines Lächelns und legte eine Liste seiner Kleidungsstücke an. Er war etwas verwirrt, als er merkte, dass ein Mädchen in der Klasse eine ähnliche Liste führte, aber er fragte seine Mutter nicht um Rat, wie er es sonst in allem tat.
    Er verschloss sich noch mehr, als ihm klarer wurde, dass er sich mehr für Jungs interessierte. Nur in diese eine Sache weihte er seine Mutter nicht ein. Sie sprach nur von Mädchen, wenn es um seine Zukunft ging, während er sich mit seiner Verliebtheit in einen braunäugigen Jungen quälte, der nie ein Wort für ihn übrig hatte. Er war schon ein Jahr in der Ausbildung, ehe er sich seiner Mutter offenbarte.
    Sein Coming-out überforderte sie zunächst. Sie hatte feste Vorstellungen von seiner Zukunft gehabt. War davon ausgegangen, dass er eine Familie gründen würde. Das anstrebte, was sie ihm nicht hatte bieten können. Er war enttäuscht von ihrer Reaktion, bis ihm bewusst wurde, dass er zu viel erwartet hatte. Sie fragte ihn mehr als einmal, ob er sich sicher sei. Wie er es wissen könne, ohne je mit einem Mädchen geschlafen zu haben, ohne je mit einem Mann intim gewesen zu sein. Es ermüdete ihn, ihr immer wieder zu versichern, dass man es auch so wissen könne.
    Er brachte ihr einen Ratgeber mit, den er auf dem Couchtisch liegen ließ. Als sie eine Bekannte fragte, ob deren Sohn eine Freundin habe – oder einen Freund, wusste er, dass sie es akzeptiert hatte. Ihr Verhältnis wurde fast wieder so vertraut wie zuvor, vielleicht sogar besser und offener.
    Als er sich das erste Mal in einen einschlägigen Club traute, dessen Adresse er in der Lokalzeitung gefunden hatte, war er achtzehn. Woche um Woche zögerte er den Besuch heraus, setzte sich aber schließlich in den Zug, fuhr über eine Stunde, und war dann zu aufgeregt und ängstlich, um hineinzugehen. Er ging mehrmals vor dem Eingang auf und ab, bis er sich endlich hinter einem Pulk Jungen mit hineinziehen ließ. Drinnen hielt er sich an sein Bier und blieb wie angewurzelt in einer Ecke stehen, versuchte, locker und entspannt zu wirken, aber es gelang ihm nicht. Aufgestylt sahen die anderen aus in ihren engsitzenden, glänzenden Hosen, ärmellosen Shirts mit Drucken oder transparenten Einsätzen. Er dagegen kam sich schäbig vor in seiner Jeans und dem einfachen T-Shirt.
    Bis er einen

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