Im Zug (German Edition)
beruhigen, wenn es von neuem verunsichert und verängstigt war.
Das musste jener Impuls sein, von dem sie immer schon gehört hatte, den sie aber selbst nie kennen lernen konnte – der fürsorgliche Drang, sein Kind vor den Unbilden des Schicksals zu beschützen. Mutterliebe.
Ein wunderbares Gefühl.
Instinktiv bewegte sich Helen auf die Geräusche zu. Sie hatte kaum zehn zaghafte Schritte gemacht, als sie einen hohen, dunklen Schemen gewahrte – ein massiger weißer Ambulanzwagen, der mitten auf der Wiese parkte. Seine breiten Reifen hatten sich rücksichtslos bis zu den Felgen in den Boden eingegraben, und Dampf stieg noch von seiner Haube auf, ein Zeichen dafür, wie kurze Zeit er erst hier stand.
Helen blieb instinktiv direkt neben dem Fahrzeug stehen und verhielt sich völlig still. Sie begriff nicht, weshalb, doch irgendwie … irgendwie war alles, was sie hier wahrnahm, sehr einschüchternd, Furcht einflößend. Selbst das große, rote Kreuz auf der Seitenwand des Ambulanzwagens wirkte wie ein Alarmsignal auf sie.
Die sich unterhaltenden Männer und die schluchzende Person, zweifelsohne weiblich, befanden sich dahinter.
Helen strich unsicher über das noch warme Metall der Haube, fühlte, dass die Seitenwände feucht waren vom kondensierenden Nebel. Der Wagen akklimatisierte sich gerade, gewöhnte sich an die Umgebung.
Und auch das machte Helen Angst. Denn sie fühlte sich hier fremder denn je, als wäre sie auf eine andere Welt verschlagen worden, mit der sie nie etwas zu tun gehabt hatte … oder nicht mehr.
‚ Ich benehme mich kindisch‘, rügte sie sich. Aber der Gedanke besaß keinerlei Kraft. Sie zitterte am ganzen Leibe, wusste allerdings nicht zu sagen, ob das von der feuchten Kälte kam oder von der tief in ihr wurzelnden Furcht, für die Helen keinen Grund hätte angeben können.
Eine erschöpfte, brummige Stimme sagte resignierend soeben: „... zweiundvierzig Verletzte, das ist die letzte Prognose. Wir haben alle Abteile durch, Sir.“
Ein Teil der Antwort wurde durch Geräusche aus der Ferne unkenntlich gemacht. Helen verstand nur noch das letzte Wort der knappen Erwiderung. „... Hoffnung?“
Wer immer da sprach, klang kommandogewöhnt, mit diesem Unterton von Stahl in der Stimme. Und einer Art von banger Hoffnung, die Helen Edwards frösteln ließ.
Was auch hier geschehen sein mochte … es musste ganz schlimm gewesen sein. Und das alles lag noch nicht lange zurück. Helen dachte an die warme Motorhaube, und das Grauen in ihrer Seele dauerte an.
„ Nein, Sir, ganz sicher nicht. Da gibt es nur noch diesen einen Waggon …“
Helen trat nun doch wie in Trance näher an die kleine Gruppe von Männern heran, blieb aber schüchtern auf Abstand und wurde nicht bemerkt.
Es waren drei – zum einen ein kompakt gebauter Polizist mit leicht ergrautem, vom Nebel schon etwas durchgeweichten Kopfhaar, das mal wieder einen Kamm und eine Rasur gebraucht hätte. Er hatte sich seine Jacke ausgezogen und fror erkennbar. Doch es kam kein Ton des Protestes oder der Klage über seine Lippen.
Bei dem zweiten handelte es sich um einen schlaksigen, schnurrbärtigen Rettungssanitäter, der jungenhaft und sehr erschöpft wirkte. Seine Kleidung war schmutzig, teilweise schwarzgerieben, teils mit roten, eintrocknenden Flecken übersät, über deren Natur Helen gar keine genaueren Auskünfte erhalten wollte! Um seine Augen lagen dunkle Ränder, und wahrscheinlich war er es gewesen, der die Hiobsbotschaft eben überbracht hatte.
Den dritten im Bunde stellte ein drahtiger, schmaler Mann in Zivil, dessen schmales, faltenzerfurchtes Gesicht Fassung zu wahren versuchte. Er mochte vielleicht vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt sein, also deutlich älter als die anderen beiden. Sein Antlitz strahlte jenes Vertrauen, jene tiefe, verständnisvolle Ruhe aus, die Seelsorgern zu Eigen war. Helen konnte sich gut denken, dass sich Menschen, die Schicksalsschläge erlitten hatten, bei ihm geborgen und verstanden fühlen würden. Doch in seinen Augen spürte Helen auch eine tiefe Hoffnungslosigkeit auf, solche Hoffnungslosigkeit, dass es ihr schier die Kehle zuschnürte. Der „Zivilist“, vielleicht ein Psychologe, saß auf einem Schemel neben einer Frau, um deren Schultern ein Polizeimantel lag – der Mantel des Polizeibeamten, der jetzt frierend dabeistand.
Offensichtlich war diese blonde Frau, die Helen den Rücken zuwandte und sich nun mühsam dazu zwang, für einen Moment mit dem Schluchzen
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