Im Zweifel suedwaerts
Frage war nicht, welchen Schritt ich demnächst oder in ein paar Jahren mehr bereuen würde. Die Frage war, was jetzt, genau in diesem Moment, mein Herz zu all dem zu sagen hatte. So kitschig es klang, ich hatte herausfinden müssen, wer dort drin seinen Platz hatte. Oder wie der höfliche Türke so schön gesagt hatte: Was ist mit Liebe? Die Antwort darauf hatte ich jetzt. Und wenn ich dementsprechend handelte, würde ich, egal was später passierte, meine Entscheidung nicht bereuen. Davon war ich überzeugt. In Ansätzen zumindest. Also, ich hoffte, dass es so funktionieren würde. Verdammt … Eine bessere Idee hatte ich eben einfach nicht.
Nur noch ein paar Meter lagen zwischen mir und dem Hoteleingang. Ich bemerkte, dass ich völlig außer Atem war. Dabei hatte ich mich nicht sonderlich beeilt. Es musste an den Ausweichmanövern liegen. Und an der Anspannung in mir, die jetzt nicht nur meinen Magen sondern auch meine Kehle zuzudrücken schien. Eine Entscheidung zu treffen, war eine Sache. Sie auch in die Tat umzusetzen, war manchmal die viel größere Hürde. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen und stützte mich an der niedrigen Hafenmauer ab. Ich musste mich irgendwie beruhigen, bevor ich Felix traf …
»Da bist du ja schon!«
Zu spät.
Ich drehte mich um und versuchte, ein fröhliches Gesicht zu machen, während mir das Herz in den Ohren schlug. Winkend kam Felix vom Hotelportal über die Straße auf mich zugelaufen, und ich fragte mich, ob mir genug Zeit blieb, mich schnell noch über die Kaimauer zu übergeben. Wohl eher nicht, also ließ ich es bleiben. Kaum eine Sekunde später stand er vor mir, beugte sich ganz selbstverständlich zu mir herunter, um mir einen Begrüßungskuss zu geben – und stutzte. Er zog seinen Kopf zurück und sah mich fast beleidigt an.
»Was?«, fragte ich.
Er zeigte auf meinen Mund. »Lippenstift.«
Es stimmte. Lippenstift. Roter Lippenstift. Ich hatte ihn schnell noch aufgetragen, bevor ich vom Werkstatthof geeilt war. Betty hatte sich zwar auch dazu jeden Kommentar verkniffen, wenn aber ihre Augen eine Laserstrahl-Funktion gehabt hätten, wäre ich jetzt nicht mehr gewesen als ein verkohltes Loch im Boden. Zu Unrecht. Denn sie hatte ja keine Ahnung, welcher Plan dahintersteckte.
Ich legte lächelnd den Kopf schief und fragte Felix arglos: »Was ist damit?«
»Sag nicht, du hast das vergessen!« Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich eine Haarsträhne aus der Stirn und lachte hilflos. »Ich hasse Lippenstift, das weißt du doch. Es ist diese Phobie … Ich kann dich nicht küssen, wenn du das schmierige, klebrige Zeug da drauf hast. Daran musst du dich doch erinnern.«
Stimmt. Das tat ich. Und dieser Umstand kam mir äußerst gelegen, denn ich wollte nicht, dass Felix mich küsste. Ich wollte nicht einmal, dass er mich umarmte. Ich wollte diese ganze Sache beenden, bevor Schlimmeres passierte. Ich wollte nach Hause fahren und Richard sehen, ohne ein dreckiges Geheimnis oder ein schlechtes Gewissen im Gepäck. Ich wollte das alles mit ihm klären, auch wenn es Tage oder Wochen dauern würde, egal, er hatte jetzt ja Urlaub. Und wenn am Ende wirklich dabei herauskam, dass wir keine Chance mehr hatten, wollte ich mich für ein paar Monate oder Jahre irgendwo zusammenrollen und meine Wunden lecken. Das wollte ich.
Was ich nicht wollte, war, Richard kaltblütig zu hintergehen. Dafür respektierte ich ihn zu sehr. Und dafür war es mir zu wichtig, dass er und meine Freunde (und vor allem ich selbst) mich auch weiterhin respektieren konnten. Ich wollte ihn nicht betrügen. Noch dazu mit meinem Exfreund, dem ich den schlimmsten Liebeskummer meines Lebens verdankte und der inzwischen, wie es schien, komplett durchgeknallt war. Um ehrlich zu sein, hätte es mich nicht überrascht zu erfahren, dass irgendwo in Norddeutschland eine Anstalt unter Hochdruck auf der Suche nach einem entlaufenen Patienten war. Anfang dreißig. Blonde Haare. Süßes Lächeln. Rufname Felix. Trennungstrauma-induzierter Realitätsverlust, nachdem kurz vor seinem geplanten Pärchenurlaub aus Eva die Ex geworden war. So weit meine Analyse, und der war ich mir mehr als sicher. Auf dem Gebiet der Trennungstraumata war ich schließlich so etwas wie eine Expertin, und das nicht zuletzt dank des Mannes, der jetzt vor mir stand, plötzlich mit der Schulter zuckte und sagte: »Ach, was soll’s …«
Was soll’s?!, dachte ich, und konnte gerade noch erschrocken Luft holen, bevor Felix seine Lippen auf
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