Im Zweifel suedwaerts
zuvor. Mein Rücken und mein Nacken waren verspannt, meine Augen brannten, und vor lauter Schlafmangel war ich so überreizt, dass ich bei jedem Geräusch hochschreckte. Lucy war nicht besser dran. Wenn man einen kompletten Abend durchheulte, hinterließ das Spuren, mit denen man sich in unserem Alter gern mal den ganzen Folgetag herumschlagen durfte. »Tränen verderben den Teint und führen zu nichts«, hatte meine Oma Mathilde immer gesagt. Ja. Andererseits hatte man selten eine Wahl. Denn wenn sie kamen, dann meistens aus gutem Grund.
Mutter Kottkewicz ließ beim gemeinsamen Frühstück Brötchen, Fleisch und hart gekochte Eier links liegen. Sie blieb stattdessen beim schwarzen Kaffee und versuchte, ihre Tochter davon zu überzeugen, dass es viel besser für sie wäre, die nächsten Tage in Remscheid zu bleiben. Aber Lucy wollte davon nichts hören. Lucy wollte weg.
Das musste Moni akzeptieren, wenn auch widerwillig. Sehr widerwillig. Bis zum Schluss war ich mir nicht sicher, ob sie sich nicht vielleicht doch noch an ihre Tochter ketten oder den Familien-Schäferhund auf uns hetzen würde, der nach einer ganzen Nacht und einem Morgen im Keller bestimmt wütend genug war, um Betty und mir erheblichen Schaden zuzufügen. Zum Glück geschah nichts dergleichen.
Um zehn standen Betty und ich zur Abfahrt bereit vor dem Haus der Kottkewiczs und scharrten mit den Füßen, während Lucy von ihren Eltern gedrückt, geküsst und mit tütenweise Lebensmitteln versorgt wurde. Für uns hatten sie nur ein lauwarmes Nicken übrig und ein »Gute Reise dann«, dessen Klang noch einmal deutlich machte, dass sie es nicht guthießen, dass ihre Tochter sich nun in unserer Obhut befand. Das konnte ja niemals gut gehen. Die Gartenzwergmörderin und das Mädchen mit den schlimmen Haaren.
Ich bemühte mich um einen versöhnlichen Abschied, gab erst Moni und dann Mike die Hand und sagte: »Danke für das leckere Essen und dass wir hier übernachten durften. Und wegen des Gartenzwergs …«
»Schon vergessen«, unterbrach mich Herr Kottkewicz zähneknirschend. Aber das war eine Lüge. Nichts war vergessen.
Betty und ich setzten uns nach vorn in den Bus, und Lucy krabbelte hinten rein. Der Motor wurde angelassen, es wurde kollektiv gewunken, dann fuhren wir schweigend und ohne Musik durch das vormittägliche graue Remscheid zur Autobahn.
Erst als der Bus sich auf der rechten Spur eingereiht und seine Spitzengeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometer erreicht hatte, drückte Betty den Play-Knopf am Tapedeck. Mein Tape war an der Reihe. Bässe und Beats aus Maschinen und der wabernde Gesang von International Pony passten wunderbar zu der regnerischen Stimmung vor der Windschutzscheibe und dem monotonen Rauschen der Autobahn.
»Puh«, machte Betty und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
»Allerdings«, pflichtete ich ihr bei.
Hinter uns lehnte Lucy am Fenster und starrte hinaus.
»Schätzelein, so kann das nicht weitergehen. Wir sind im Urlaub. Urlaub soll Spaß machen.«
»Lucy ist traurig, sie kann nichts dafür.«
»Das sag ich ja auch gar nicht. Aber ab jetzt wehren wir uns. Liebeskummer ist wie Remscheid, man kann ihn hinter sich lassen.«
»Darf ich noch Torte?«, fragte Lucy.
Ich drehte mich zu ihr um. »So viel du willst. Bedien dich.« Mir ging diese Seite in Lucys ansonsten leerem Poesiealbum nicht aus dem Kopf. Sie tat mir so leid. Hätten wir keine Torte an Bord gehabt, ich hätte ihr an Ort und Stelle eine gebacken, nur damit sie ein kleines bisschen glücklicher wurde. Mir kam in den Sinn, dass Moni vielleicht damals, als Lucy ein unglücklicher Teenager gewesen war, ähnlich gedacht hatte. Und es zwischen diesem Denken und Lucys kräftigem Körperbau einen Zusammenhang geben könnte.
»Wenn ich Torte höre, muss ich an Kaffee denken«, unterbrach Betty meine Überlegungen. »Ich brauch Kaffee.«
»Es gab doch eben beim Frühstück Kaffee …«
»Ich rede nicht von dieser Brühe, Schätzelein. Ich brauch richtigen Kaffee. Ich brauch Espresso. Halt mal die Augen nach einer Raststätte auf, an der es Espresso gibt.«
Der Teil in mir, der gern verbotene Zeitpläne machte und auf die Uhr schaute, also der Teil, den ich mit aller Macht unterdrücken musste, um den Frieden in der Reisegruppe zu wahren, wand und wehrte sich. Der Teil in mir, der sich mehr als alles andere Harmonie und gute Laune wünschte, war stärker.
Ich hielt die Augen auf.
Etwa eine Stunde später stand der Bus auf einem Parkplatz in der
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