Im Zweifel suedwaerts
»Und was ist an Arcachon so gut?«
Er öffnete und schloss den Mund, augenscheinlich auf der Suche nach den richtigen Worten. »Dort ist Sand. Viel Sand auf einem Platz.« Er gestikulierte mit den Händen und malte Wellen oder Berge oder so was in die Luft. »Wydma.«
»Was-ma?«
»Ist doch egal, Schätzelein, jetzt guck in die Karte und sag mir, wie wir da hinkommen. Ich seh da vorn einen Laster, der nimmt uns bestimmt im Windschatten mit.« Betty wechselte die Spur, während ich die Straßenkarte aufschlug. »80! 85! 90!«, jubelte sie. »Arcachon, wir kommen!«
»Tja, wieder was gelernt.« Betty stemmte die Hände in die Hüften und studierte das große Informationsschild am Rand des Parkplatzes.
Ich stand neben ihr und tat dasselbe. »Wydma. Da hätte ich auch keine Ahnung gehabt, wie ich das übersetzen soll.«
»Mit Wanderdüne vielleicht?«
»Ach, Betty, was würde ich nur ohne dich machen?« Ich klopfte ihr ironisch auf die Schulter und beendete die Lektüre des deutschen Informationstexts: Dune du Pyla. Die größte Wanderdüne Europas, ein 108 Meter hoher Sandberg. Und auf der anderen Seite wartete der Atlantik auf uns. »Auf jeden Fall ein Erlebnis.«
»Und das Beste, Schätzelein: Wenn wir uns jetzt gleich auf den Weg machen, können wir uns sogar noch den Sonnenuntergang über dem Ozean ansehen.«
»Das sollten wir tun.«
»Is ja schließlich Urlaub, nech?«
»Allerdings.«
Wir gingen zurück zum Bus, packten Decken, Wasser und Torte in meinen Rucksack, zogen Jacken an und fragten die Polen, ob sie Lust hätten, uns zu begleiten. Wir fragten auch Lucy. Das heißt, Betty fragte sie. Mit mir redete sie nach wie vor kein Wort, und überhaupt wollte sie lieber weiter beleidigt sein, im Bus bleiben und alte SMS von Hannes aus ihrem Handy löschen. Und da ja schließlich Urlaub war und jeder so sollte, bedrängten wir sie nicht weiter. Das heißt, Betty bedrängte sie nicht weiter. Ich stand nur daneben und fragte mich, ob das jetzt die kommenden Tage und Wochen so weitergehen würde.
Wir stapften los in Richtung Sonnenuntergang. Und obwohl ich mir eigentlich nichts mehr wünschte als Harmonie im Camp, stellte ich überrascht fest, dass ich zum ersten Mal seit Langem zufrieden war. Als wir das Waldstück am Fuß der Düne durchquerten und ich den Tag Revue passieren ließ, kam ich zu dem Schluss, dass der Urlaub jetzt endlich angefangen hatte. Und er hatte gut angefangen. Selbst wenn sich zwei polnische Anhalter in die Reisegruppe eingeschlichen hatten und Lucy mich vorübergehend hasste. Wir waren unterwegs, wir erlebten etwas und das, was ich mir erhofft hatte, als ich in Hamburg in den Bus gestiegen war, war eingetreten: Mit jedem Kilometer, den ich zwischen mich und mein Zuhause brachte, wurden die Sorgen, die dort die Tage trüber gemacht hatten, kleiner. Die Farbeimer im Flur, die Leiter im Schlafzimmer. Arbeit, Fernsehen, Schlafen gehen – Alltag eben. Und dann immer der Druck, etwas Besonderes aus der seltenen freien Zeit zu machen, die man ab und zu hatte. Das alles kam mir, als meine Füße in den kühlen Sand sanken, nicht mehr wichtig vor. Und war fast vollständig aus meinem Kopf verschwunden, als meine Oberschenkel wenig später wie Feuer brannten, weil die Steigung der größten Wanderdüne Europas nicht von schlechten Eltern war.
»Man muss was tun für die Torte, Schätzelein!«, rief Betty, die mir ein paar Schritte voraus war. Aber selbst das mit der Torte war jetzt auch nicht mehr so wichtig.
Viele Leute gingen ja regelmäßig joggen, weil sie dabei den Kopf frei bekamen und gut nachdenken konnten. Ich joggte nie. Ich fand das unsinnig, laufen ohne Ziel. Ich machte auch keinen anderen Sport, und vielleicht war das der Fehler, weil sich ein Knäuel von Gedanken seit Längerem immer mehr in meinem Kopf verhedderte und ich nie die Gelegenheit hatte, es zu entwirren. Jetzt bestieg ich eine Wanderdüne und erlebte plötzlich einen dieser Joggingmomente der Klarheit: Als ich an Richard dachte und mir bewusst wurde, dass ich froh war, ohne ihn hier zu sein, weil das bedeutete, dass ich mich nicht mit ihm streiten musste, nicht darüber nachdenken, ob die Kleinigkeiten, die in unserer Beziehung immer wieder zu Streitereien führten, eben nicht nur Kleinigkeiten waren, sondern Indizien dafür, dass wir eigentlich nicht zusammengehörten. Und das war doch eigentlich die große Frage. Die, die mir Angst machte.
Betty ging davon aus, dass Richard und ich heiraten und Kinder bekommen
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