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Im Zweifel suedwaerts

Im Zweifel suedwaerts

Titel: Im Zweifel suedwaerts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katarina Fischer
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den Polen sehen? Ich glaube, die haben wir irgendwo im Wald verloren.« Ich hob nachdrücklich die Augenbrauen.
    Betty verstand zum Glück, nahm die Taschenlampe vom Regal, öffnete die Bustür und nickte mir zu. »Keine Sorge, Schätzelein, die Polen werden gefunden werden. Aber ich mach jetzt diese Tür hinter mir zu. Und wenn ich zurückkomme und sie steht grundlos offen, dann werde ich euch zwingen, jede einzelne Mücke, die sich hier eingeschlichen hat, von Hand zu fangen und …« Ich hätte meine Augenbrauen schon aus rein anatomischen Gründen nicht noch höher ziehen können. »Ja, okay, ich bin dann mal weg. Erstma!«
    Sieben Blatt Küchenrolle und ein Stück Torte später war Lucy so weit wiederhergestellt, dass sie sich zumindest artikulieren konnte. Sie war noch immer ein kompaktes Häuflein Elend, sie hielt noch immer den Kopf gesenkt, aber immerhin war sie etwas getrocknet und leckte sich Marzipanreste aus dem Mundwinkel, es ging also bergauf. Ich griff nach ihrem pinkfarbenen Handy und ließ es zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen, klappte es auf und zu und überlegte, wie ich am besten fragen sollte. »Hat er sich gemeldet?«, war schließlich der Satz, für den ich mich entschied, weil er einigermaßen neutral klang und nicht den Namen Hannes enthielt, den ich inzwischen als Trigger für ausschließlich negative Reaktionen – vom akuten Heulen bis hin zum Langzeitschmollen – identifiziert hatte.
    Lucy begann trotzdem wieder zu weinen. Leise immerhin. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie viele Leute außer mir auch gemeint hatten, einen Wolf zu hören. Im schlimmsten Fall war uns schon wieder die Polizei auf den Fersen. Oder ein Sonderkommando Hobbyjäger. Mit Schrotflinten und Fackeln.
    »Hat er?«, fragte ich noch mal.
    Sie schüttelte den Kopf. Nein also.
    »Möchtest du, dass er sich bei dir meldet?«
    Sie sagte nichts, zog nur die Nase hoch und starrte auf ihre Hände. Ich interpretierte das als »ja, aber ich würde es nie zugeben«. Ungelenk wischte sie sich mit dem Handrücken über Nase und Wangen. »Die SMS . Ich wollte sie eigentlich bloß löschen. Aber dann hab ich angefangen, sie zu lesen. Eine nach der anderen. Und dann konnte ich nicht mehr.«
    Ich nickte, was Lucy natürlich nicht sehen konnte, weil ihr Kopf noch immer nach unten hing. Das konnte auf die Dauer nicht gut sein. »Sag mal, tut dir nicht der Nacken weh?«
    »Doch.« Sie hob den Kopf, lehnte ihn gegen die Buswand und starrte an die Decke.
    »Wenn es dich so traurig macht, dass ihr nicht mehr zusammen seid«, sagte ich nach einer Pause, »kann das nicht bedeuten, dass du eigentlich gar nicht mit ihm Schluss machen wolltest? Ich meine, vielleicht warst du einfach nur wütend. Jeder ist mal wütend auf die Person, die er liebt, und manchmal ist man so wütend, dass man denkt, dass man eigentlich Schluss machen will, aber eigentlich ist man eben nur … sehr …« Lucy sah mich so seltsam an, so ernst und stolz wie noch nie. Es war ein so fremder Blick, dass er mich komplett aus der Bahn warf. »… wütend?«
    Draußen pfiff der Wind und wuschelte durch die Baumwipfel, ein Käuzchen rief, aber der Wolf war verschwunden.
    »Hannes hat alles kaputt gemacht. Es gibt eine Sache, ein Problem. Das wusste er von Anfang an. Ich hab ihm alles erzählt, und es war nicht leicht. Ich hab ihm vertraut. Er hat gesagt, dass er mich versteht. Aber er hat nichts verstanden. Er hat alles kaputt gemacht.«
    Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete und wusste nicht, was ich sagen oder fragen durfte, ohne dass die Situation wieder eskalierte. Ich hatte das Gefühl, dass ich Lucy nicht drängen durfte, weiterzureden. Schon gar nicht aus dem falschen Grund, aus Neugier. Denn das, worüber sie eben so kryptisch gesprochen hatte, musste etwas sein, das sie lieber für sich behielt, weil es zu schwer war, davon zu erzählen. Wenn sie irgendwann beschloss, die Geschichte mit mir zu teilen, musste ich sie als Freundin hören wollen, als jemand, der bereit war, ihr beim Tragen ihrer Last zu helfen. Ich wusste nicht, ob ich dazu in der Lage sein würde, wenn schon Hannes daran gescheitert war. Aber gemeinhin wuchs man ja mit seinen Aufgaben …
    »Ich will jetzt nicht darüber reden«, flüsterte Lucy, als hätte sie meine Gedanken mit angehört. Vielleicht war das Glück. Oder unheimlich. Wie so vieles an diesem Abend.
    Ich bemühte mich, einen Arm um sie zu legen und rutschte näher an sie heran. »Es tut mir leid, wenn du das Gefühl

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