Imagica
damit es nicht beobachten mußte, wie sein Artgenosse ausgeweidet wurde. Zacharias nahm das Messer, das sie bekommen hatten, als sie Beatrix zum erstenmal verließen, und begann damit die blutige Arbeit. Schon bald mußte er feststellen, daß sich das Messer ebensowenig für eine solche Aufgabe eignete wie er selbst. Die Haut des Doeki war sehr dick, das Fett gummiartig, das Fleisch von Sehnen durchzogen. Eine Stunde lang hackte und schnitt er, doch es gelang ihm nur, das Fell von der oberen Hälfte eines Hinterbeins zu lösen. Blut klebte ihm an den Händen, und er schwitzte in seinem Mantel.
»Soll ich dich ablösen?« fragte Pie.
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»Nein«, entgegnete Gentle scharf. »Ich komme schon zurecht.« Er setzte seine ungeschickten Bemühungen mit einer inzwischen stumpf gewordenen Klinge fort, doch der Kadaver leistete ihm auch weiterhin erfolgreichen Widerstand.
Schließlich stand er auf und stapfte zum Feuer, wo der Mystif saß und in die Flammen starrte. Verärgert warf er das Messer neben Pie'oh'pah in den tauenden Schnee.
»Ich gebe auf«, brummte er. »Vielleicht hast du mehr Glück.«
Pie zögerte kurz, bevor er nach dem Messer griff und es an der nahen Felswand schärfte. Dann erhob er sich und trat zu dem toten Tier. Gentle sah ihm nicht zu. Das Doeki-Blut widerte ihn an, und um den Ekel loszuwerden, mußte er die Kälte hinnehmen. Er ging fort vom Feuer und fand eine Stelle, wo der Schnee höher lag. Dort zog er Mantel und Hemd aus und sank auf die Knie, um im frostigen Weiß zu baden. Die Kälte ließ ihn schaudern, doch irgend etwas in ihm nahm diese Selbstkasteiung mit Zufriedenheit zur Kenntnis, sah darin einen Beweis für Willenskraft. Als Gentle Hände und Gesicht gereinigt hatte, rieb er sich den Schnee auch auf Brust und Bauch, obgleich das Blut dort keine Flecken hinterlassen hatte.
Der Wind heulte und fauchte jetzt nicht mehr so laut wie vorher, und der zwischen den Felsen sichtbare Himmel nahm einen goldenen Ton an. Zacharias verspürte plötzlich das Bedürfnis, in jenem Licht zu stehen, gab dem Drängen nach und kletterte nach oben, ohne vorher den Mantel überzustreifen. Der Aufstieg war recht schwer, und er hatte kaum mehr Gefühl in den Händen, als er sein Ziel erreichte -
um dort ein Panorama zu genießen, das die Mühe lohnte. Kein Wunder, daß Hapexamendios auf Seinem Weg durch die Domänen auch diesen Ort besucht hatte: Eine solche Pracht inspirierte selbst Götter. Die Gipfel der Jokalaylau ragten in langen Reihen hintereinander auf, und das Firmament, dem sie entgegenstrebten, verlieh ihren Hängen einen goldgelben 343
Glanz. Völlige Stille herrschte.
Der günstige Aussichtspunkt diente nicht nur einem ästhetischen Zweck, sondern auch einem praktischen. Ganz deutlich war der Hohe Paß zu sehen. Und weiter rechts bemerkte Gentle etwas, das ihn veranlaßte, den Mystif zu rufen: ein funkelnder Gletscher reichte bis auf etwa anderthalb Kilometer an den hohen Felsen heran. Doch Zacharias' Aufmerksamkeit galt nicht etwa der gewaltigen Eismasse an sich, sondern etwas, das er entdeckt hatte.
»Möchtest du herausfinden, was es mit den dunklen Objekten im Eis auf sich hat?« fragte Pie und säuberte seine blutigen Hände im Schnee.
»Das halte ich für angemessen«, erwiderte Gentle. »Wenn wir in die Fußstapfen des Unerblickten treten und den gleichen Weg wie Er beschreiten... Dann sollten wir uns auch ansehen, was Er einst sah.«
»Oder was Er hinterließ«, murmelte der Mystif.
Sie kletterten wieder nach unten, und in der Nische zog Gentle Hemd und Mantel an. Die Kleidungsstücke hatten neben dem Feuer gelegen und waren angenehm warm, aber sie rochen auch nach den Tieren, von denen sie stammten - er hätte es fast vorgezogen, nackt zu bleiben und nicht die Haut anderer Lebewesen zu tragen.
»Hast du den Doeki ausgeweidet?« wandte er sich an Pie, als sie aus der Nische traten. Sie gingen zu Fuß, um die Kräfte des einen Transportmittels zu schonen, das ihnen noch geblieben war.
»Soweit es mir möglich gewesen ist«, antwortete der Mystif.
»Ich bin kein Metzger.«
»Bist du ein Koch?« fragte Gentle.
»Kein guter. Warum?«
»Oh, seit einer Weile denke ich häufig ans Essen. Weißt du, nach dieser Reise rühre ich vielleicht nie wieder Fleisch an.
Das Fett! Die Knorpel! Allein der Gedanke daran dreht mir den 344
Magen um.«
»Du magst Süßes.«
»Das ist dir aufgefallen, wie? Lieber Himmel, für einige Mohrenköpfe mit extra viel Schokolade könnte ich jetzt
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