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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Wie sonst?«
    »Du hast dem Unerblickten ins Handwerk gepfuscht?«
    hauchte der Mystif entsetzt. »Ich hoffe, daß es außer den Frauen selbst keine Zeugen dafür gibt.«
    »Die von dir angekündigten Wächter waren zugegen, und sie hätten mich fast umgebracht. Aber es gelang mir, sie abzuwehren.«
    »Das sind schlechte Neuigkeiten.«
    »Warum? Wenn ich Schmerzen habe, so soll auch Er bluten.«
    »Hapexamendios blutet nicht.«
    »Alle Lebewesen bluten, Pie. Selbst Gott. Vielleicht gerade Gott. Warum hat Er sich sonst zurückgezogen?«
    Erneut läuteten die Glocken, näher als jemals zuvor. Pie blickte über Gentles Schulter. »Vielleicht hat sie auf diese kleine Häresie gewartet«, sagte er.
    370

    Zacharias drehte sich um und sah jene Frau, die draußen im Schnee gewinkt hatte - sie stand auf der anderen Seite des Sanktuariums in den Schatten. Nach wie vor klebte Eis an ihrem Leib, was darauf hindeutete, daß ihre Körpertemperatur unter dem Gefrierpunkt lag. Kleine Eisbrocken klebten in ihrem Haar, und wenn sie den Kopf wandte, stießen sie aneinander und klirrten.
    »Ich habe Sie aus dem Gletscher befreit«, sagte Gentle. Er ging an Pie vorbei und näherte sich der Frau, die auch weiterhin schwieg. »Verstehen Sie mich?« fuhr er fort. »Sind Sie bereit, uns zu führen? Wir suchen einen Weg zur anderen Seite des Gebirges.«
    Die Frau wich einen Schritt zurück, und die Dunkelheit schloß sich um sie.
    »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben«, sagte Gentle.
    »Pie! Bitte hilf mir.«
    »Wie?«
    »Vielleicht versteht die Unbekannte kein Englisch.«
    »Oh, sie versteht dich.«
    »Sprich mit ihr, bitte«, beharrte Gentle.
    Der immer gehorsame Pie kam der Aufforderung nach und gab Laute von sich, die für Zacharias völlig bedeutungslos blieben. Sie klangen fast wie Musik. Doch die Frau lehnte es ab, sich davon beeindrucken zu lassen, und wich noch weiter in die Schatten zurück. Gentle folgte ihr langsam; er fürchtete, sie zu erschrecken, aber noch mehr fürchtete er, daß sie verschwand. Verzweifelt fügte er Pies Bemühungen schlichtes Flehen hinzu:
    »Ich habe Sie befreit - wollen Sie sich dafür nicht erkenntlich zeigen?«
    Pie hatte recht - die Frau verstand ihn. Trotz der Dunkelheit sah Gentle, wie ihre Lippen ein feines Lächeln andeuteten.
    Verdammt, warum antwortet sie mir nicht? dachte er. Noch immer läuteten die ›Glocken‹ in ihrem Haar, und er folgte 371

    ihrem Klang, als Schatten die Frau verschlangen. Er sah kurz zum Mystif zurück, der seine Kommunikationsversuche jetzt aufgab und sich statt dessen an den Menschen wandte:
    »Geh nicht weiter.«
    Zwar betrug die Entfernung zwischen Gentle und Pie höchstens fünfzig Meter, aber die Stimme schien aus der Ferne zu kommen - offenbar trennte sie mehr als nur Distanz.
    »Ich bin noch immer hier!« rief Zacharias. »Kannst du mich sehen?« Als er die bestätigende Antwort des Mystifs hörte, richtete er den Blick wieder in die Finsternis - und hielt dort vergeblich nach der Frau Ausschau. Er fluchte und eilte zu der Stelle, wo sie zuletzt gestanden hatte. Gleichzeitig verstärkte sich sein Eindruck, daß mit der aktuellen Umgebung irgend etwas nicht stimmte. Der Finsternis haftete etwas Nervöses an -
    sie wirkte wie ein schlechter Lügner, der versuchte, Gentle mit einem Schulterzucken abzuspeisen. Aber er ließ sich nicht täuschen, war noch entschlossener als vorher und wollte unbedingt feststellen, was die Schwärze vor ihm verbarg.
    Allerdings dachte er auch an das Risiko, auf das er sich nun einließ. Erst vor wenigen Minuten hatte er Pie darauf hingewiesen, alles sei verletzlich, selbst ein Gott. Doch niemand -
    nicht einmal der Unerblickte - konnte Dunkelheit verletzlich machen. Wenn sie sich um ihn schloß..., dann war es sinnlos, nach ihr zu schlagen und zu versuchen, ihr Schmerzen zuzufügen, auf daß sie ihn freigab.
    Hinter Gentle erklang erneut die Stimme des Mystifs.
    »Wo bist du?«
    Pie trat jetzt ebenfalls in die Schatten.
    »Komm nicht näher«, warnte Gentle.
    »Warum nicht?«
    »Vielleicht brauche ich jemanden, der mir den Rückweg zeigt.«
    »Dreh dich einfach um und geh geradeaus.«
    »Nachdem ich die Frau gefunden habe.« Gentle streckte die 372

    Arme aus und setzte behutsam einen Fuß vor den anderen.
    Der Boden unter ihm war glatt und glitschig; jeder Schritt erforderte große Vorsicht. Ohne die Hilfe der Frau - ohne jemanden, der sie durch den Berg führte - mochte sich das Labyrinth als ebenso gefährlich erweisen wie

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