Imagica
Gesicht nicht viel anders aus. Hast du die Glocken gehört? Ich wette, sie befinden sich hinter der nächsten Biegung!«
»Schon seit fast einer Stunde läuten sie immer wieder hinter 367
der nächsten Kurve. Wir haben uns ihnen überhaupt nicht genähert, Gentle. Es ist irgendein Trick. Wir sollten zum Doeki zurückkehren, bevor ihn jemand tötet.«
»Ich bin sicher, daß an diesem Ort kein Blut vergossen wird«, erwiderte Zacharias. Einmal mehr klirrte es. »Hörst du?
Die Glocken sind nahe.«Er eilte zur nächsten Ecke und schlitterte dabei auf dem Eis. »Sieh nur, Pie.«
Der Mystif trat zu ihm. Voraus wurde der Gang schmaler und führte zu einer Tür.
»Was habe ich dir gesagt?« Gentle setzte sich sofort in Bewegung, hastete zur Tür und öffnete sie.
Das Sanktuarium jenseits der Pforte war kaum größer als ein normaler Kirchensaal, aber man hatte es mit solchem Geschick aus dem Fels gemeißelt, daß es prächtig wirkte - trotz der offensichtlichen Beschädigungen. Dutzende von kunstvoll verzierten Säulen ragten zu einer gewölbten Decke empor, und ihre Schönheit bildete einen auffallenden Kontrast zu den Löchern in Wänden und Boden. Gentle begriff sofort, daß die Objekte im Gletscher einst zur Ausstattung dieses Raumes gehört hatten. Zwischen den Resten des zertrümmerten Altars in der Mitte lagen blaue Steinsplitter und erinnerten ihn an den Statuenkopf in den Armen des Mädchens. Er war sicherer als jemals zuvor, daß sie nun an einem Ort standen, den auch Hapexamendios besucht hatte.
»In den Fußstapfen des Unerblickten«, murmelte Zacharias.
»Ja«, sagte Pie. »Er war hier.«
»Ebenso wie die Frauen. Aber ich bezweifle, ob sie die Hoden von Männern essen. Bestimmt waren ihre Zeremonien nicht ganz so unangenehm.« Gentle ging in die Hocke und strich mit den Fingerkuppen über blauen Stein. »Ich frage mich, was hier geschehen sein mag... Gern würde ich bei einem der Rituale zusehen.«
»Um dir Arme und Beine ausreißen zu lassen?«
»Wie meinst du das?«
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»Die Riten der Göttinnen sind nicht für Männeraugen bestimmt.«
»Aber du hättest daran teilnehmen können, nicht wahr?«
erkundigte sich Gentle. »Als perfekter Spion. Du wärst imstande gewesen, alles zu beobachten.«
»Es geht nicht ums Beobachten«, erwiderte Pie leise. »Es geht ums Fühlen.«
Gentle richtete sich auf, musterte den Mystif und verstand.
»Ich beneide dich, Pie«, gestand er. »Du kennst beide Empfindungen, nicht wahr? Daran denke ich jetzt zum erstenmal. Erzählst du mir eines Tages, wie sich eine Frau fühlt?«
»Warum findest du es nicht selbst heraus?« entgegnete Pie.
»Wie denn?«
»Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um...«
»Sag's mir.«
»Nun, auch wir Mystifs haben Rituale. Keine Sorge: Du brauchst dich nicht in irgendein Sanktuarium zu schleichen, um zu beobachten. Ich könnte dich einladen, wenn du möchtest.«
Vage Unruhe zitterte in Gentle, als er diesen Worten lauschte. Während der bisherigen Reise hatte er so viele Wunder gesehen, daß er sie inzwischen fast als selbstverständlich hinnahm - und das ungelöste Rätsel seines Begleiters vergaß. Seit der ersten Begegnung in New York hatte er Pie nicht noch einmal nackt gesehen und sich auch keine sexuellen Empfindungen ihm gegenüber erlaubt.
Vielleicht lag es jetzt daran, daß er an die Frauen aus dem Eis dachte, an ihre geheimen Zeremonien an diesem Ort..., als er den Blick auf Pie'oh'pah richtete, erfaßte ihn eine sonderbare Erregung.
Schmerz lenkte ihn ab; er sah auf seine Hände und stellte fest, daß sie zu Fäusten geballt waren, wodurch sich alte Schnittwunden geöffnet hatten. Mühsam streckte er die Finger, und Blut tropfte rot aufs Eis. Der Anblick weckte eine 369
Erinnerung, die tief in seinem Ich geschlafen hatte.
»Was ist los?« fragte Pie.
Es fehlte Gentle der Atem, um die Frage des Mystifs zu beantworten. Ganz deutlich hörte er, wie der zugefrorene Fluß unter ihm knirschte, wie weiter oben die von Hapexamendios zurückgelassenen Wächter heulten. Er spürte, wie seine Hand immer wieder auf den Gletscher hinabhämmerte, wie Eissplitter davonstoben, ihn Geschossen gleich im Gesicht trafen.
Pie trat an seine Seite.
»Gentle...«, sagte er beunruhigt. »Sprich doch. Was ist geschehen?«
Er legte Zacharias den Arm um die Schultern, und der physische Kontakt veranlaßte Gentle, nach Luft zu schnappen.
»Die Frauen im Eis...«, begann er.
»Ja?«
»Ich habe sie befreit.«
»Wie?«
»Mit Pneumas.
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