Imagica
der draußen tobende Schneesturm. Mir bleibt gar keine andere Wahl, als die Frau zu finden, fuhr es Zacharias durch den Sinn.
»Kannst du mich noch hören, Pie?« rief er.
Das Ja war so leise und undeutlich wie bei einem Ferngespräch mit schlechter Verbindung.
»Sag irgend etwas!«
»Was denn?« erwiderte der Mystif.
»Keine Ahnung. Sing ein Lied.«
»Mir fehlt musikalische Begabung.«
»Sprich übers Essen.«
»Na schön«, entgegnete Pie. »Über den Ugichee und einen Bauch voller Kaviar weißt du schon Bescheid...«
»Nie zuvor habe ich etwas Abscheulicheres gehört«, sagte Gentle.
»Du kämst schon bald auf den Geschmack.«
»Sagte die Schauspielerin zum Bischof.«
Zacharias hörte Pies leises Lachen, und dann meinte der Mystif: »Du hast mich fast ebensosehr gehaßt wie Fisch, erinnerst du dich? Und es ist mir gelungen, dich zu bekehren.«
»Ich habe dich nicht gehaßt.«
»Doch, das hast du. In New York.«
»Nein, nicht einmal dort. Ich war nur verwirrt. Damals lag ich zum erstenmal mit einem Mystif im Bett.«
»Hat es dir gefallen?«
»Besser als Fisch - aber nicht so gut wie Schokolade.«
»Wie bitte?«
»Besser als...«
»Gentle? Ich kann dich kaum mehr hören.«
»Ich bin noch immer hier!« rief Zacharias. »Ich möchte es 373
noch einmal tun, Pie!«
»Was?«
»Mit dir schlafen.«
»Darüber muß ich nachdenken.«
»Was verlangst du von mir? Einen Heiratsantrag?«
»Das könnte mich veranlassen, mit dir unter die Decke zu kriechen.«
»Na schön!« erwiderte Gentle. »Laß uns heiraten!«
Stille herrschte hinter ihm. Nach zwei oder drei weiteren Schritten blieb er stehen und drehte sich um. Pies Gestalt zeichnete sich als undeutlicher Schemen vor dem fernen Licht des Sanktuariums ab.
»Hast du gehört?« fragte er.
»Ich denke darüber nach.«
Gentle lachte trotz der Dunkelheit und des Unbehagens, das sie in ihm nährte.
»Nimm dir nicht zuviel Zeit, Pie«, spottete er. »Ich brauche eine Antwort in...« Er unterbrach sich, als seine ausgestreckten Hände an etwas Festes und Gefrorenes stießen. »Oh, Mist!«
»Was ist los?«
»Ich stecke hier in einer verdammten Sackgasse!« Gentle trat ganz dicht an das Hindernis heran und strich über Eis. »Eine Wand versperrt den Weg.«
Aber das war noch nicht alles. Erneut spürte er, daß an diesem Ort ein Geheimnis auf Entdeckung wartete. Jenseits der Wand verbarg sich etwas, gerade außerhalb seiner Reichweite.
»Kehr jetzt zurück«, drängte Pie.
»Hab' ein wenig Geduld«, murmelte Gentle und wußte, daß ihn der Mystif nicht hörte. Er hob die Hand zum Mund und fing damit einen Atemhauch.
»Gentle?« rief Pie'oh'pah.
Zacharias antwortete nicht und schleuderte das Pneuma gegen das Hindernis - inzwischen war seine Hand mit dieser Methode vertraut. Die Dunkelheit dämpfte alle Geräusche und 374
verschluckte das Krachen, aber von der Decke herabfallende Eissplitter wiesen darauf hin, welche Kraft sich entfaltet hatte.
Gentle wartete nicht, bis die Erschütterungen nachließen, sondern versetzte der Wand einen zweiten, dann einen dritten Schlag. Jeder Hieb öffnete weitere Wunden in der Hand, und Blut spritzte hervor - vielleicht verstärkte es die Wucht der Pneumas. Wenn Atem und Spucke soviel bewirkten - was ließ sich dann mit Blut und Sperma anstellen?
Als er innehielt, um die Lungen mit Luft zu füllen, vernahm er die Stimme des Mystifs und drehte sich um - Pie kam mit langen Schritten näher, eilte durch eine Dunkelheit, die nun vom Chaos heimgesucht wurde. Nicht nur Wand und Decke zitterten: Die Luft selbst bebte, zerfetzte Pie'oh'pahs Silhouette.
Gentle versuchte, einen klaren Eindruck von ihm zu gewinnen, als ein dicker Speer aus Eis zwischen ihnen auf den Boden prallte und zerbarst. Ihm blieb gerade noch Zeit genug, die Arme vors Gesicht zu heben, bevor ihn die Splitter trafen.
Er taumelte und stieß an die Wand.
»Wenn du so weitermachst, stürzt der ganze Berg auf uns herab!« rief Pie. Weitere Eislanzen fielen zu Boden.
»Es ist bereits zu spät!« erwiderte Gentle. »Beeil dich, Pie!«
Der Mystif war selbst auf dem glatten Boden leichtfüßig, wich den fallenden Eisbrocken aus und lief zu seinem menschlichen Gefährten. Gentle wartete nicht, bis Pie eintraf, er wandte sich erneut der Wand zu und wußte: Wenn nicht bald eine Öffnung in ihr entstand, mußten sie damit rechnen, lebendig begraben zu werden. Er fing noch einen Atemhauch und schleuderte ihn der Barriere entgegen. Diesmal gelang es den
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