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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Yzordderrex?«
    »In der Tat«, bestätigte Pie und forderte Gentle mit einem Wink auf, ihn durch den Dunst zu begleiten. »Der Fastenweg ist die längste Straße von Imagica. Er dürfte noch länger sein als Nord- und Südamerika zusammen.«
    »Eine Karte!« entfuhr es Zacharias. »Ich muß damit beginnen, eine Karte zu zeichnen!«
    Der Nebel lichtete sich, und mit dem heller werdenden Licht kamen Pflanzen - das erste Grün seit den Vorbergen der Jokalaylau. Gentle und Pie gingen schneller, als die Vegetation üppiger wurde und hellen Sonnenschein versprach.
    »Denk daran, Gentle«, sagte Pie nach einigen Dutzend Metern. »Ich habe akzeptiert.«
    »Du hast was akzeptiert?« erwiderte Zacharias.
    Die letzten Schleier des Nebels zerfaserten, und vor ihnen erstreckte sich eine warme neue Welt.
    »Deinen Heiratsantrag. Erinnerst du dich?«
    »Ich habe nicht gehört, daß du dich einverstanden erklärt hast.«
    »Trotzdem ist es der Fall«, sagte Pie und ließ dabei seinen Blick über die grüne Landschaft schweifen. »Diese Domäne soll mehr für uns sein als nur eine Zwischenstation auf der 378

    Reise. Laß sie zum Ort unserer Hochzeit werden!«
    379

KAPITEL 24
l
    In jenem Jahr hielt der Frühling eher als sonst Einzug in England. Schon Ende Februar wurden die Tage mild, und Mitte März waren sie warm genug, um April- und Maiblumen aus dem Boden zu locken. Die Experten verkündeten ihre Meinung in den Medien: Kam es zu keiner Frostperiode mehr, bei der die Blüten verwelkten und gerade erst ausgeschlüpfte Vögel in den Nestern erfroren, so könnte man im Mai mit einem Schwall aus neuem Leben rechnen. Pessimisten allerdings prophezeiten Dürre und atmeten erleichtert auf, als Anfang März dunkle Regenwolken ihre Schleusen über den Britischen Inseln öffneten.
    Als Judith am ersten Regentag an die Wochen seit den Ereignissen auf dem Godolphin-Anwesen zurückdachte, erinnerte sie sich zwar an Aktivitäten, doch die Einzelheiten blieben vage. Oscar hatte sie in seinem Haus einquartiert und sich alle Mühe gegeben, um ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Sie konnte ganz nach Belieben kommen und gehen, doch diese Freiheit nutzte sie kaum aus.
    Godolphin erschien ihr noch immer vertraut; dieses seltsame Empfinden verblaßte nicht etwa, sondern wurde noch intensiver, ohne daß sich seine Ursache ergründen ließ. Oscar erwies sich als sehr großzügiger Gastgeber, aber Jude war von vielen Männern gut behandelt worden, ohne mit einer so starken inneren Anteilnahme darauf zu reagieren. Etwas anderes kam hinzu: Es war eine ganz neue Erfahrung für sie, daß Estabrooks Bruder ihre Gefühle nicht erwiderte -
    zumindest zeigte er sie nicht. Seinem Gebaren lag eine gewisse Reserviertheit zugrunde, die zu Förmlichkeit zwischen ihnen führte, zu einer Distanz, die Judiths Emotionen noch 380

    stimulierte. Wenn sie allein waren, kam sie sich manchmal wie seine verloren geglaubte Geliebte vor, die wie durch ein Wunder zurückgekehrt war: Sie kannten sich so gut, daß sie auf äußerliche Zeichen ihrer Zuneigung verzichteten. Wenn sie in der Gegenwart von anderen Personen bei ihm weilte - im Theater, beim Essen mit Freunden -, so schwieg sie meistens.
    Und zwar gern. Auch das war neu für Jude. Bisher hatte sie nie gezögert, ihre Meinung zu bestimmten Dingen zu äußern, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen, doch jetzt machte es ihr überhaupt nichts aus, nur zuzuhören. Sie lauschte dem Klatsch und Tratsch (es ging dabei um Politik, Finanzen und Neuigkeiten aus der gesellschaftlichen Szene) wie dem Dialog eines ganz besonderen Theaterstücks. Es war nicht ihr Drama.
    Sie hatte gar keins, konnte sich einfach nur daran erfreuen, sie selbst zu sein. Judith ruhte in ihrem eigenen Mittelpunkt, und nichts in ihr wünschte sich noch mehr als die Rolle einer Beobachterin, einer Zeugin des allgemeinen Geschehens.
    Godolphin hatte viel zu tun. Zwar verbrachten sie einen Teil des Tages zusammen, aber Jude mußte sich damit abfinden, häufig allein zu sein. Wenn das der Fall war, fühlte sie sich von einer angenehmen Apathie erfaßt, die in einem krassen Gegensatz zu der Verwirrung vor ihrer Begegnung mit Oscar stand. Sie versuchte, so wenig wie möglich an jene Zeit zu denken, doch wenn sie in ihre Wohnung zurückkehrte, um irgendwelche Sachen zu holen oder dem Briefkasten Rechnungen zu entnehmen (die Dowd bezahlte; Godolphin bestand darauf), erinnerte sie sich an Freunde, zu denen sie keine Kontakte mehr unterhielt.

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