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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Klein, Clem und ein halbes Dutzend andere hinterließen natürlich Mitteilungen im Anrufbeantworter. Später trafen auch Briefe ein - manche brachten Besorgnis im Hinblick auf ihre Gesundheit zum Ausdruck -, und darüber hinaus fand sie unter der Tür hindurchgeschobene Zettel mit der Bitte, etwas von sich hören zu lassen. Sie rief Clem an, weil sie an schlechtem Gewissen 381

    litt: Seit der Beerdigung hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Später besuchten sie ein Restaurant unweit seines Büros in Marylebone, und dort erzählte sie ihm, daß sie einen Mann kennengelernt hatte und zu ihm gezogen sei. Das weckte natürlich Clems Neugier, und er erkundigte sich nach dem Glücklichen. Jemand, den er kannte? Und wie stand es mit Sex
    - großartig oder einfach nur wundervoll? Die wichtigste Frage lautete: Ist es wahre Liebe? Judith gab so gut wie möglich Auskunft. Sie nannte Oscars Namen, beschrieb ihn und erklärte auch, daß sich noch nichts Sexuelles zwischen ihnen abgespielt habe, obgleich sie gelegentlich daran dachte. Und was die Liebe betraf... Sie sei noch nicht sicher. Jude kannte Clem gut und wußte: Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden würde er allen ihren Bekannten Bescheid geben. Das war ihr nur recht. Ihre Auskünfte sorgten wenigstens dafür, daß sich niemand mehr Sorgen um sie machte.
    »Wann lernen wir deinen Neuen kennen?« fragte Clem, als sie das Restaurant verließen und sich voneinander verabschiedeten.
    »Früher oder später...«, erwiderte Judith ausweichend.
    »Er hat eine ziemliche Wirkung auf dich, nicht wahr?«
    »Wie meinst du das?«
    »Du bist so - wie soll ich es nennen? - ruhig und gelassen.
    Auf diese Weise habe ich dich noch nie zuvor gesehen.«
    »Ich glaube, auf diese Weise habe ich noch nie zuvor empfunden.«
    »Nun, achte bloß darauf, daß wir nicht jene Judy verlieren, die wir alle ins Herz geschlossen haben«, sagte Clem. »Zuviel Seelenfrieden ist schlecht für den Kreislauf. Jeder braucht ab und zu Aufregung.«
    Die Bedeutung dieses Gesprächs wurde ihr erst am Abend klar, als sie in der Stille des Hauses saß und auf Oscars Rückkehr wartete. Dabei begriff sie plötzlich, wie passiv sie geworden war. Die alte Judith - eine Frau, die es nie versäumte, 382

    Diskussionsbeiträge zu leisten, in der immer Leidenschaft brodelte - schien zu einer ganz anderen und wesentlich sanfteren Jude metamorphiert zu sein, die in einer Phase des Wartens weilte. Eine Phase, die sicher irgendwann zu Ende ging, zu Ende gehen mußte. Sie konnte nicht den Rest ihres Lebens in abgeklärter Serenität verbringen, oder? Sicher dauerte es nicht mehr lange, bis sie Anweisungen bekam. Und sie wußte auch, von wem - von dem Mann, dessen Stimme im Flur ihr Herz schneller pochen ließ: Oscar Godolphin.
    Die vergangenen Wochen hatten etwas Gutes und etwas Schlechtes gebracht - auf der einen Seite Oscar, auf der anderen Kuttner Dowd. Er war scharfsinnig genug, um schon nach kurzer Zeit festzustellen, daß Judith weitaus weniger über die Domänen und ihre Geheimnisse wußte, als das Gespräch bei der Zuflucht hatte vermuten lassen. Sie bekam nicht die erhofften Informationen von ihm, ganz im Gegenteil: Dowd begegnete ihr mit Schweigsamkeit und Argwohn, manchmal sogar mit direkter Unhöflichkeit - letzteres allerdings nie in Oscars Gegenwart. Wenn sie alle drei zusammen waren, überschüttete er sie geradezu mit Respekt, doch seine Ironie entging der Aufmerksamkeit Oscars, der so sehr an Dowds unterwürfige Präsenz gewöhnt zu sein schien, daß er ihn kaum mehr zur Kenntnis nahm.
    Judith lernte bald, ebenfalls mißtrauisch zu werden, und mehrmals gab sie fast der Versuchung nach, mit Oscar über Dowd zu reden. Doch sie entschied sich dagegen - eine direkte Konsequenz des Geschehens bei der Zuflucht. Der junge Mann hatte die Leichen mit ruhiger Gleichgültigkeit verbrannt, und sein Verhalten deutete darauf hin, daß er derartige Probleme nicht zum erstenmal für Godolphin löste. Er forderte auch kein Lob für seine Arbeit, zumindest nicht in Judes Hörweite. Wenn die Beziehung zwischen Herr und Diener so stabil war, daß selbst ein Verbrechen - die Beseitigung von ermordeten Körpern - keine Erwähnung lohnte, so hielt es Judith für 383

    besser, sich nicht einzumischen. Sie war hier der Eindringling: das neue Mädchen, das glaubte, dem Herrn schon immer gehört zu haben. Sie durfte nicht hoffen, daß Oscar ihr auf die gleiche Weise zuhörte wie Dowd; das Bemühen, Argwohn zwischen

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