Imagica
ihnen zu säen, mochte auf sie selbst zurückfallen.
Deshalb schwieg sie, und alles lief glatt. Bis zum Regen.
2
Für den zweiten März war ein Besuch in der Oper geplant.
Judith hatte den Nachmittag damit verbracht, sich auf den Abend vorzubereiten - bei der Auswahl von Kleid und Schuhen leistete sie sich den Luxus der Unschlüssigkeit. Dowd war gegen Mittag aufgebrochen, um eine dringende Angelegenheit für Oscar zu erledigen, und Jude kam gar nicht erst auf den Gedanken, sich danach zu erkundigen. Unmittelbar nach ihrer Ankunft im Haus Godolphin erfuhr sie, daß Fragen in Hinsicht auf Oscars Geschäfte alles andere als willkommen waren, und sie hatte dieses Gebot immer geachtet. Doch an diesem Tag wirkte Dowd seltsam nervös, als er das Haus verließ, und sein verändertes Gebaren veranlaßte Judith, über Godolphins Aktivitäten nachzudenken. Befand er sich in Yzordderrex?
Schritt er durch die gleichen Straßen wie Gentle und sein neuer Freund, der Assassine? Noch vor zwei Monaten, als die Glocken von London zum Beginn des neuen Jahres läuteten, hatte sie geschworen, ihnen zu folgen. Sie war davon überzeugt gewesen, daß ihr Godolphin helfen konnte, in die andere Welt zu gelangen - doch gerade er lenkte sie nun von ihrer ursprünglichen Entschlossenheit ab. Als ihre Gedanken zu der geheimnisvollen Stadt zurückkehrten, wurden sie nicht von der einstigen Sehnsucht begleitet. Sie hätte gern gewußt, wie es Gentle dort erging und was er dort sah, aber es erschien ihr nun absurd, sich mit einem Eid verpflichtet zu haben, ihm zu folgen. Das Hier erfüllte alle ihre Wünsche.
Die Zufriedenheit lähmte nicht nur ihr Interesse an den 384
anderen Domänen; den Ereignissen auf der Erde brachte sie eine ähnlich beschaffene Lethargie entgegen. In der einen Ecke des Schlafzimmers stand ein fast immer eingeschalteter Fernseher - es gab kein besseres Schlafmittel -, doch Judith warf nur dann und wann einen flüchtigen Blick auf die Mattscheibe. Den Nachrichten am Nachmittag hätte sie sicher keine Beachtung geschenkt - wenn nicht etwas an ihre Ohren gedrungen wäre, das Erinnerungen an Charlie weckte.
In der Heide von Hampstead hatte man drei Leichen gefunden, und ihre Verstümmelungen wiesen daraufhin, daß es sich um eine Art Ritualmord handelte. Erste Untersuchungen ergaben folgendes: Die Opfer stammten aus der Kultszene; es waren Leute, die sich mit Schwarzer Magie und dergleichen befaßten. Aus jenen Kreisen hörte man auch Klagen über weitere Todesfälle, Berichte von Personen, die plötzlich verschwunden seien. Manche Thaumaturgen glaubten, daß ein regelrechter Feldzug gegen sie begonnen hatte, eine Vendetta.
Die Reportage endete mit einer Sequenz, in der Dutzende von Polizisten durchs Gebüsch der Heide stapften und dort nach weiteren Indizien suchten, während es in Strömen regnete.
Diese Neuigkeiten beunruhigten Judith aus zwei Gründen, die mit den Brüdern in Zusammenhang standen. Erstens: Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie Charlie am Fenster seines Zimmers in der Klinik saß, zur Heide hinübersah und an Selbstmord dachte. Zweitens: Vielleicht brachte die Vendetta Oscar in Gefahr, der ganz offensichtlich mit okkulten Dingen zu tun hatte.
Während des restlichen Nachmittags dachte sie darüber nach, und ihre Besorgnis nahm zu, als Oscar um sechs noch nicht heimgekehrt war. Jude zog sich nicht für die Oper um, sondern ging statt dessen nach unten und wartete dort unweit der offenen Tür; sie lauschte dem Regen, der draußen auf die Sträucher an der Treppe herabprasselte. Godolphin kam um zwanzig vor sieben, zusammen mit Dowd, der sofort 385
verkündete, daß kein Opernbesuch stattfinden würde.
Godolphin widersprach ihm (sehr zum Verdruß des jungen Mannes) und bat Judith, sich bei den letzten Vorbereitungen zu beeilen. In zwanzig Minuten wollte er losfahren.
Pflichtbewußt stieg sie die Treppe hoch und hörte, wie Dowd sagte:
»Sie wissen doch, daß McGann Sie sprechen will, oder?«
»Ich rede mit ihm, keine Sorge«, erwiderte Oscar. »Liegt der schwarze Anzug bereit? Nein? Meine Güte, was hast du den ganzen Tag über angestellt? O nein, ich will's gar nicht wissen
- zumindest nicht auf leeren Magen.«
Schwarz verlieh Oscar ein gewisses Etwas, und Judith lobte sein Erscheinungsbild, als sie fünfundzwanzig Minuten später ins Erdgeschoß zurückkehrte. Er nahm das Kompliment mit einem Lächeln entgegen und deutete eine Verbeugung an.
»Sie sehen wie immer hinreißend aus«, sagte er.
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