Imagica
»Wissen Sie eigentlich, daß ich gar kein Foto von Ihnen habe? Ich möchte gern eins, für meine Brieftasche. Dowd soll sich darum kümmern.«
Seltsamerweise war der junge Mann nicht zugegen. An fast jedem Abend schlüpfte er in die Rolle des Chauffeurs, doch diesmal nahm er offenbar andere Pflichten wahr.
»Leider verpassen wir den ersten Akt«, meinte Oscar unterwegs. »Ich muß noch etwas in Highgate erledigen, wenn Sie gestatten.«
»Natürlich«, antwortete Judith.
Oscar klopfte ihr auf die Hand. »Es dauert nicht lange«, versprach er.
Allem Anschein nach geschah es nicht häufig, daß er selbst fuhr: Er konzentrierte sich ganz darauf, den Wagen zu steuern.
Judith dachte einmal mehr an die Nachrichten im Fernsehen, aber sie hielt es für besser, Godolphin nicht mit Fragen abzulenken. Die Fahrt nahm tatsächlich nur wenig Zeit in Anspruch. Oscar mied den dichten Verkehr auf den 386
Hauptstraßen und entschied sich für einen Umweg, der sie schneller zu seinem Ziel brachte. Sie erreichten es in einem wahren Wolkenbruch.
»Da sind wir«, sagte Estabrooks Bruder. Es strömten solche Regenfluten über die Windschutzscheibe, daß Jude kaum zehn Meter weit sehen konnte. »Bleiben Sie hier im Warmen. Ich bin gleich wieder da.«
Er ließ sie im Wagen zurück und eilte über den Hof zu einem schattenhaften Gebäude. Niemand erschien an der Eingangstür: Sie öffnete sich automatisch und glitt hinter ihm wieder zu.
Judith beugte sich erst vor, als Oscar in dem Haus verschwunden war und das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach des Wagens ein wenig nachließ. Erneut spähte sie durch die Windschutzscheibe nach draußen und sah zu dem Gebäude hinüber, das nun deutlichere Konturen annahm. Von einer Sekunde zur anderen erkannte sie den Turm aus ihrer Traumreise wieder. Instinktiv stieß sie die Tür auf. »O nein, o nein...«
Sie stieg aus, wandte das Gesicht dem kalten Regen zu und gab sich noch kälteren Erinnerungen hin. Das visionäre Schweben durch die Straßen, das Empfinden weiblichen Kummers, weiblichen Zorns, dann dieser Ort... Jude hatte die entsprechenden Erlebnisse in die Grauzone zwischen Realität und Imagination verbannt. Anders ausgedrückt: Sie hatte sich eingeredet, daß tatsächlich nicht mehr als ein Traum dahintersteckte. Doch nun ragte der Turm vor ihr auf, und er sah genauso aus wie das Gebäude, das angeblich nur von Fantasie geschaffen worden war. Wenn das Äußere so exakt dem Erinnerungsbild glich... Vielleicht galt das auch fürs Innere?
Judith entsann sich an einen labyrinthischen Keller, in dessen Regale Tausende von Büchern und Manuskripten ruhten. Sie entsann sich an eine Mauer (davor Mann und Frau, im Geschlechtsverkehr vereint), und dahinter, sichtbar nur für 387
die körperlose Reisende, lag eine gefesselte Frau, seit vielen Jahrzehnten von Dunkelheit umhüllt. Mit mentalen Ohren hörte sie nun den Schrei der Gefangenen: jenes schrille Heulen, das Jude in die Flucht schlug, zurück durch die Straßen zur Sicherheit ihrer Wohnung, zurück in den eigenen Körper.
Schrie die Frau noch immer? Oder ist sie in das Koma zurückgesunken, aus dem ich sie geweckt habe? Bei der Vorstellung, ihr zusätzliche Pein beschert zu haben, quollen Jude Tränen in die Augen und vermischten sich mit dem Regen.
»Was machen Sie hier?«
Oscar verließ den Turm und hastete über den Kies, die Jacke über den Kopf gehoben.
»Wollen Sie sich eine Lungenentzündung holen, Teuerste?
Steigen Sie ein. Bitte, bitte. Steigen Sie ein.«
Judith gehorchte. Regennässe tropfte ihr über den Nacken.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich... ich wollte nur feststellen, wohin Sie gegangen sind, und... Ich weiß nicht. Dieser Ort wirkt irgendwie vertraut.«
»Es ist ein Ort ohne Bedeutung«, behauptete Oscar. »Sie zittern. Wäre es Ihnen lieber, wenn wir nicht zur Oper fahren?«
»Würden Sie das sehr bedauern?«
»Ganz im Gegenteil. Das Vergnügen darf nicht zur Pflicht werden. Ihre Kleidung ist völlig durchnäßt, und Sie frieren. Ich möchte nicht, daß Sie sich erkälten. Ein krankes Individuum reicht...«
Judith nahm Oscars letzte Bemerkung kommentarlos hin -
viel zu verwirrt, um darauf einzugehen. Sie wollte schluchzen, ohne zu wissen, ob Kummer oder Freude der Grund dafür war.
Zwei Erkenntnisse reiften in ihr heran und veränderten ihre Perspektive:
Der Traum basierte nicht auf Imagination, sondern auf Fakten; und in Godolphin verbarg sich mehr, als man zunächst glauben mochte. Seine
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