Imagica
geschickten Untertreibungen ließen 388
alles ganz normal erscheinen: Wenn er in die Domänen reiste, schien er nur mit einem Zug unterwegs zu sein, und seine Ausflüge nach Yzordderrex kamen einem besonderen individuellen Tourismus gleich, der (noch?) nicht für die breite Masse zur Verfügung stand. Doch Oscars Bagatellisieren war eine Maske, die über weitaus mehr Signifikanz hinwegtäuschen sollte. Seine Ignoranz - oder Arroganz - würde ihn irgendwann umbringen, befürchtete Judith. Dieser Gedanke rief Kummer in ihr hervor. Und die Freude? Vielleicht gelang es ihr, ihn zu retten, damit er sie aus Dankbarkeit liebte.
Im Haus legten sie beide die förmliche Kleidung ab. Als Judith ihr Zimmer verließ, wartete Oscar an der Treppe auf sie.
»Ich frage mich...«, begann er. »Vielleicht sollten wir gewisse Dinge erörtern.«
Sie gingen nach unten in den geschmackvoll eingerichteten Salon. Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben.
Godolphin zog die Vorhänge zu und schenkte Brandy ein, bevor er Jude gegenüber Platz nahm.
»Wir haben ein Problem, Sie und ich.«
»Ach?«
»Wir haben uns soviel zu sagen. Ich meine... Das gilt zumindest für mich, und ich vermute, daß Sie genauso empfinden.
Nun, es gibt Dutzende von Angelegenheiten, über die ich gern mit Ihnen sprechen möchte, aber ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll. Zweifellos bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. Damit meine ich die Ereignisse auf dem Anwesen, Dowd und die Voider, die Konfrontation zwischen Charlie und mir... Die Liste ließe sich fortsetzen. Ich habe mir große Mühe gegeben, eine Möglichkeit zu finden, Ihnen alles verständlich zu machen. Aber manchmal bin ich selbst nicht sicher, wo die Wahrheit liegt. Erinnerungen können so trügerisch sein...«
Judith murmelte zustimmend. »Erst recht dann, wenn man es mit Orten und Personen zu tun hat, die aus Träumen -
gelegentlich Alpträumen - zu stammen scheinen.«
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Oscar leerte sein Glas und griff nach der Flasche, die auf dem kleinen Tisch neben ihm stand.
»Dowd gefällt mir nicht«, entfuhr es Judith. »Ich mißtraue ihm.«
Godolphin sah auf, während er sein Glas füllte. »Klug von Ihnen«, erwiderte er. »Möchten Sie noch etwas Brandy?« Sie hob ihr Glas, und er schenkte großzügig nach. »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, fuhr er fort. »Dowd ist aus mehreren Gründen gefährlich.«
»Können Sie ihn nicht irgendwie loswerden?«
»Ich fürchte, er weiß zuviel. Er könnte noch gefährlicher werden, wenn er nicht mehr an mich gebunden ist.«
»Hat er etwas mit den Mordfällen zu tun? Ich habe heute nachmittag die Nachrichten gesehen...«
Oscar winkte ab.
»Darüber brauchen Sie nicht Bescheid zu wissen, Teuerste«, entgegnete er.
»Aber wenn Ihnen Gefahr droht...«
»O nein. Nein. Seien Sie unbesorgt.«
»Sie kennen also die Hintergründe?«
»Ja.« Godolphin atmete tief durch. »Ich kenne zumindest einige. Ebenso wie Dowd. Er weiß mehr über diese Sache als wir beide zusammen.«
Dieser Hinweis erstaunte Judith. Wußte Dowd auch von der Gefangenen hinter der Mauer, oder gehörte dieses Geheimnis allein ihr? Wenn Oscars Assistent nichts davon ahnte, so mochte es besser sein, zu schweigen, nicht von der gefesselten, eingemauerten und seit einer halben Ewigkeit leidenden Frau zu berichten. Die meisten Teilnehmer an diesem Spiel verfügten über Informationen, die Jude fehlten, und wenn sie ihr spezielles Wissen jemand anderem anvertraute, so schwächte sie ihre Position, riskierte vielleicht sogar ihr Leben.
Ein Aspekt von Judiths Selbst, der weder den Annehmlichkeiten des Komforts erlag noch dem Bedürfnis 390
nach Liebe, weilte bei der Frau, die sie geweckt hatte. Und dort wollte sie ihn auch belassen, im Schutze der Dunkelheit. Der Rest durfte einen Weg zu ihrer Zunge finden.
»Sie sind nicht der einzige, der die Domänen aufsucht«, sagte Jude. »Ein Freund von mir ist ebenfalls in die andere Welt gewechselt.«
»Tatsächlich? Wer?«
»Er heißt Gentle. Eigentlich lautet sein Name Zacharias.
John Furie Zacharias. Charlie hatte Gelegenheit, ihn kennenzulernen.«
»Charlie...« Oscar schüttelte den Kopf. »Armer Charlie.«
Und dann: »Erzählen Sie mir von Gentle.«
»Es ist eine komplizierte Geschichte«, meinte Judith. »Als ich Charlie verließ, wollte er sich an mir rächen und setzte einen Killer auf mich an...«
Sie schilderte den Mordversuch in New York, das spätere Eingreifen Gentles, die Ereignisse am Silvesterabend. Ab und zu
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