Imagica
jüngsten Weibchen und ältesten Männchen, dessen selbstmörderische Akrobatik sie miteinander verband.
Natürlich hatte Jude viele Fragen, und Godolphin gefiel sich in der Rolle des Dozenten. Aber manchmal konnte er keine Antwort geben. Wie seine Vorfahren, die Plünderer des Empire, hatte er die Sammlung mit Eifer, Geschmack und auch einer gehörigen Portion Unwissenheit zusammengetragen. Wenn er von den Gegenständen sprach - selbst von denen, deren Funktion ihm unbekannt blieb -, so klang Begeisterung in seiner Stimme mit.
»Einige Objekte haben Sie Charlie gegeben, nicht wahr?«
erkundigte sich Judith.
»Ja. Ab und zu hat er etwas von mir bekommen. Sie wissen davon?«
»In der Tat.« Der Brandy führte sie in Versuchung, vom blauen Auge und der Traumreise zu erzählen, aber sie brachte sich rechtzeitig genug unter Kontrolle, um auch weiterhin darüber zu schweigen.
»Normalerweise hätte Charlie die Chance erhalten, sich in den Domänen aufzuhalten«, sagte Oscar. »Ich habe mich verpflichtet gefühlt, ihm den einen oder anderen Blick in die fremde Welt zu ermöglichen.«
»Ihm einen Teil des Rätsels zu zeigen«, murmelte Judith.
»Ja. Aber er brachte den Objekten gemischte Gefühle entgegen.«
»Typisch für Charlie.«
»Und ob. Er war viel zu sehr Engländer und hatte nie genug Mumm, um seine Emotionen auszuleben. Seine Verbindung zu Ihnen bildet die einzige Ausnahme - kann man es ihm verdenken?«
Jude sah von einem kleinen Schmuckstück auf und begegnete Oscars Blick. Sein Gesichtsausdruck war unmiß-
verständlich.
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»Es ist ein Familienproblem«, sagte er. »Wenn es um Herzensangelegenheiten geht...«
Nach diesem Geständnis zeigte sich Unbehagen in seinen Zügen, und er gestikulierte vage. »Ich lasse Sie jetzt allein.
Bleiben Sie ruhig hier, wenn Sie möchten. Von diesen Objekten geht keine Gefahr aus.«
»Danke.«
»Bitte schließen Sie hinter sich ab, wenn Sie gehen.«
»Natürlich.«
Judiths Blick folgte Godolphin, und sie suchte vergeblich nach den richtigen Worten, um ihn aufzuhalten - durch seine Abwesenheit fehlte ihr etwas. Sie hörte, wie er sein Schlafzimmer betrat - es befand sich ebenfalls in dieser Etage -, und wie hinter ihm die Tür zufiel. Ihre Aufmerksamkeit kehrte zu der Sammlung zurück, verharrte dort jedoch nicht lange. Sie wollte berühren und berührt werden - ein Wunsch, der keineswegs die Artefakte in den Regalen betraf. Nach kurzem Zögern überließ sie die Schätze aus den Domänen der Dunkelheit, schloß die Tür ab und entschied sich, Oscar den Schlüssel zu bringen. Wenn seine bewundernden Worte nicht nur Schmeichelei waren, wenn er sich Jude im Bett wünschte...
Sie würde es bald erfahren. Und wenn er sie zurückwies - dann hätte die Ungewißheit wenigstens ein Ende.
Sie klopfte an, doch Godolphin reagierte nicht. Licht schimmerte unter der Tür; Judith klopfte erneut, drehte den Knauf und trat ein. Die Lampe neben dem Bett brannte und erhellte ein altes Porträt darüber: Der goldene Rahmen umgab das Bild eines strengen, bleichen Individuums, das aufs leere Bett starrte. Jude hörte plätscherndes Wasser im Bad, schritt langsam durch das Schlafzimmer und betrachtete dabei die Details dieses sehr persönlichen und privaten Raums: Plüschkissen, weißes Leinen, eine Karaffe auf dem Nachtschränkchen; Zigaretten und ein Aschenbecher neben mehreren Taschenbüchern. Judith kündigte sich nicht an, bevor 395
sie die Badezimmertür öffnete. Oscar saß in der Unterhose auf dem Rand der Badewanne, hielt ein Handtuch und betupfte sich damit eine nur teilweise verheilte Wunde an der Seite.
Rötliches Wasser rann ihm über den vorgewölbten Bauch.
Nach einigen Sekunden hörte er Jude und sah auf; sein Gesicht verriet Schmerz. Sie verzichtete darauf, ihm eine Erklärung für ihre Präsenz anzubieten, und er verlangte auch keine, sondern sagte nur:
»Das verdanke ich Charlie.«
»Du solltest dich von einem Arzt behandeln lassen.« Judith duzte ihn nun.
»Ich vertraue den Ärzten nicht. Außerdem ist es schon besser geworden.« Godolphin warf ein Handtuch ins Spülbecken.
»Besteht eine deiner Angewohnheiten darin, einfach fremde Badezimmer zu betreten?« fragte er. »Du hättest hier etwas vorfinden können, das noch weniger...«
»...venerisch ist?« beendete Jude den von Oscar begonnenen Satz.
»Verspotte mich nicht. Ich weiß, daß ich kein guter Verführer bin. Vielleicht liegt es daran, daß ich mir über viele Jahre hinweg weibliche
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