Imagica
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Gentle erwachte und hörte ein Gebet. Zuerst reagierten nur die Ohren auf die Welt außerhalb seines Selbst, und ganz deutlich vernahm er den flehentlichen, beschwörenden Klang der Stimme, obwohl er kein Wort verstand. Andere Stimmen gesellten sich hinzu, sprachen einmal lauter und einmal leiser in einem alles andere als melodischen Rhythmus, der Zacharias an Gottesdienste auf der Erde erinnerte. Insgesamt mochten es sechs oder sieben Sprecher sein, und ein oder zwei von ihnen hinkten eine halbe Silbe hinterher, wodurch sich alles noch holpriger anhörte. Trotzdem waren es willkommene Geräusche.
Licht traf Gentles Augen, doch was auch immer sich vor ihm befand: Es gewann keine klaren Konturen. Dem trüben Glühen schien eine vage Struktur anzuhaften, und er versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Erst als Stirn, Wangen und Kinn dem Gehirn Reize meldeten, begriff Zacharias den Grund für das Fehlen von visuellen Einzelheiten: Er lag auf dem Rücken, und ein Tuch bedeckte sein Gesicht. Er wollte danach greifen und es beiseite ziehen, doch der Arm blieb reglos an seiner Seite liegen. Gentle konzentrierte sich darauf, verlangte Gehorsam von ihm, und sein Ärger wuchs, als sich die Tonart des Gebets veränderte - die Stimmen klangen noch drängender als vorher.
Das Bett, auf dem er ruhte, zitterte und schwankte plötzlich. Er bemühte sich, seiner Besorgnis Ausdruck zu verleihen, doch irgend etwas im Hals hinderte ihn daran, einen Laut von sich zu geben. Was war mit ihm los? Ruhig, ganz ruhig, dachte er.
Es kommt alles in Ordnung - du mußt nur ruhig und gelassen bleiben. Jemand hob das Bett an und brachte es fort. Wohin?
Zum Teufel mit Ruhe und Gelassenheit! Er konnte unmöglich 442
stilliegen, während man ihn herumtrug. Ich bin nicht tot, verdammt!
Oder vielleicht doch? Dieser Gedanke zerfetzte die letzten Reste des inneren Gleichgewichts. Man hob ihn hoch, um ihn fortzutragen, während er auf etwas Hartem lag, unter einem Tuch. Auf diese Weise verfuhr man mit einer Leiche, nicht wahr? Die Gebete galten ihm; sie sollten seine Seele gen Himmel geleiten, während der Körper... in einem Grab verschwand? Trug man ihn zu einem Loch im Boden? Oder zu einem Scheiterhaufen? Er mußte die Leute aufhalten, eine Hand heben, stöhnen, irgendwie daraufhinweisen, daß noch Leben in ihm steckte. Als Gentle überlegte, wie er ein derartiges Zeichen geben sollte, ertönte eine neue Stimme. Die Betenden verstummten, und die Bahrenträger verharrten, als die gleiche Stimme - die Pies! - noch einmal erklang.
»Noch nicht!« sagte der Mystif.
Rechts von Gentle murmelte jemand etwas, das er nicht verstand, vielleicht Worte des Trostes. Pie'oh'pah antwortete in der gleichen Sprache, und Kummer vibrierte in jeder einzelnen Silbe.
Kurz darauf ließ sich eine dritte Person vernehmen, offenbar mit der gleichen Absicht wie der erste Sprecher - Pie sollte sich mit dem Unvermeidlichen abfinden. Was sagten sie? Wiesen sie daraufhin, die Leiche sei nur eine Hülle, der leere Schatten eines Mannes, dessen Seele bereits an einem besseren Ort weilte? Hör nicht darauf! riefen Gentles Gedanken Pie zu. Die Seele ist hier!
Einige Sekunden später - endlich! - glitt das Tuch von Gentles Gesicht, und der Mystif erschien in seinem Blickfeld.
Er sah selbst halb tot aus: die Augen blutunterlaufen, die Schönheit vom Makel der Trauer befleckt.
Ich bin gerettet, fuhr es Zacharias durch den Sinn. Pie sieht bestimmt das Licht in meinen Pupillen, und dann weiß er, daß hinter der Stirn noch keine Verwesung Einzug gehalten hat.
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Doch es zeigte sich keine solche Erkenntnis in den Zügen des Mystifs; statt dessen trieb ihm neuer Kummer Tränen aus den Augen. Ein Mann trat neben ihn - Kristalle wuchsen ihm aus dem Kopf -, legte Pie die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die Finger des Mystifs tasteten nach Gentles Wangen, ruhten einige Sekunden lang in unmittelbarer Nähe der Lippen. Doch jener Atem, der eine Barriere zwischen den Domänen zerschmettert hatte, war nun so schwach, daß Pie ihn nicht spürte. Der Mann mit den Kopfkristallen schob den Mystif sanft von der Bahre fort, zog dann wieder das Tuch über den vermeintlichen Leichnam.
Die Trauergäste beteten lauter und noch hingebungsvoller, als die Bahrenträger den Weg mit ihrer Last fortsetzten, Zacharias war einmal mehr blind, und die Hoffnung in ihm wich Furcht und Zorn. Pie hatte immer behauptet, sehr sensibel zu sein. Jetzt wurde seine Empathie dringend
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