Imagica
sich. Im Anschluß an die letzte Silbe zerfiel das Gespinst und sank langsam zu Boden. Der Mystif ging in die Hocke und strich mit den Fingerkuppen über einige Fäden.
»Scopique...«, murmelte er.
»Was hat es mit der ›Wiege‹ auf sich?« fragte Gentle.
»Die Wiege von Chzercemit - ein Binnenmeer, zwei oder drei Tagesreisen von hier entfernt.«
»Bist du schon einmal dort gewesen?«
»Nein. Es ist ein Ort des Exils. In der Wiege gibt es eine Insel, die früher als Gefängnis diente. Dort brachte man Leute unter, die besonders schlimme Verbrechen begangen hatten und zu gefährlich waren, um hingerichtet zu werden.«
»Das verstehe ich nicht ganz...«
»Ich erkläre es dir ein anderes Mal. Wichtig ist derzeit nur eins: Aus dem ehemaligen Kerker wurde inzwischen eine Irrenanstalt.« Pie richtete sich auf. »Armer Scopique. Er hat immer den Wahnsinn gefürchtet...«
»Ich kenne das Gefühl«, kommentierte Gentle.
»...und jetzt muß er Verrückten Gesellschaft leisten.«
»Wir befreien ihn«, schlug Zacharias vor.
Pie'oh'pahs Mienenspiel blieb in der Dunkelheit verborgen, aber Gentle sah, wie der Mystif die Hände zum Gesicht hob.
Unmittelbar darauf hörte er leises Schluchzen.
»He...«, sagte er sanft und umarmte Pie. »Wir finden ihn. Ja, ich habe versprochen, dich hier allein zu lassen, aber ich dachte, dir sei etwas zugestoßen... Ich wollte dir nicht nachspionieren.«
»Wenigstens hast du ihn selbst gehört. Daher weißt du, daß 434
es keine Lüge ist.«
»Warum sollte ich es für eine Lüge halten?«
»Weil du mir mißtraust«, sagte Pie.
»Haben wir nicht vereinbart, zusammenzuhalten und uns gegenseitig zu helfen - weil wir nur dadurch hoffen können, am Leben und bei Verstand zu bleiben?« erwiderte Gentle.
»Ja.«
»Dabei bleibt's.«
»Vielleicht ist es nicht so einfach. Wenn Scopique mit seinem Verdacht recht hat... Möglicherweise arbeitet einer von uns für den Gegner, ohne etwas davon zu ahnen.«
»Mit ›Gegner‹ meinst du den Autokraten, oder?«
vergewisserte sich Zacharias.
»Er gehört zuden Feinden, aber sicher steckt noch mehr dahinter.
Vielleicht stellt er nur ein Symptom der Krankheit dar, an der Imagica leidet. Nach so langer Zeit hierherzukommen und zu sehen, wie sehr sich L'Himby verändert hat... Ich könnte verzweifeln.«
»In Vanaeph hättest du mich zwingen sollen, mit Tick Raw zu reden. Er hätte uns einige Hinweise geben können.«
»Es steht mir nicht zu, dich unter Druck zu setzen.
Außerdem: Ich bin keineswegs sicher, ob Tick Raw mehr weiß
- oder wußte - als Scopique.«
»Vielleicht kann uns dein Freund Auskunft geben, wenn wir die Wiege erreichen.«
»Hoffentlich.«
»Ich verspreche, diesmal keinen Anstoß zu nehmen und nicht einfach fortzulaufen.«
»Auf einer Insel dürfte dir das ohnehin sehr schwer fallen.«
»In der Tat.« Gentle nickte. »Wir brauchen jetzt ein Transportmittel.«
»Etwas Anonymes.«
»Etwas Schnelles.«
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»Etwas, das sich leicht stehlen läßt.«
»Kennst du den Weg zur Wiege?« fragte Zacharias.
»Nein. Aber ich erkundige mich danach, während du einen Wagen für uns stiehlst.«
»In Ordnung. Ach... Pie? Was hältst du davon, uns Hochprozentiges und Zigaretten zu besorgen?«
»Du treibst mich noch in die Dekadenz.«
»Glaubst du? Ich dachte, es sei genau umgekehrt.«
3
Sie verließen L'Himby noch vor dem Morgengrauen, mit einem Wagen, den Gentle aufgrund seiner Farbe (grau) und einem völligen Mangel an besonderen Merkmalen gewählt hatte - er leistete ihnen gute Dienste. Zwei Tage lang fuhren sie ohne irgendeinen Zwischenfall; je weiter sie sich von der Tempelstadt und ihren Vororten entfernten, desto weniger Verkehr herrschte auf den Straßen. Jenseits der Metropole patrouillierten Einheiten des Militärs, aber niemand hielt die beiden Reisenden an. Einmal beobachtete Gentle ein Manöver, das auf fernen Feldern stattfand: Gepanzerte Fahrzeuge rollten hin und her; schwere Geschütze wurden hinter Barrikaden in Stellung gebracht, dazu bereit, in Richtung L'Himby zu feuern
- ein Hinweis darauf, von wessen Gnade die Bewohner der Stadt abhingen.
Am dritten Tag waren auf der Straße fast keine anderen Fahrzeuge mehr zu sehen, und das Flachland von L'Himby wich Hügeln. Die Veränderung der Landschaft führte auch zu anderem Wetter. Wolken zogen über den Himmel und verdichteten sich, da sie keinem Wind gehorchen mußten.
Ohne Sonnenschein und Schatten - dadurch hätte die Umgebung Leben bekommen - wirkte
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