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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bildeten eine lebende Wolke.
    »Lieber Himmel...«, hauchte der Mystif.
    »Was ist los?«
    »Das Meer...«
    Pie'oh'pah brauchte seinen Worten keine Erklärung hinzuzufügen. Jenes Phänomen, das hinter ihnen über die Oberfläche der Wiege huschte, kam den Reisenden auch von der Insel her entgegen: Ein kaum spürbares Zittern veränderte die Struktur der Materie. Gentle trat aufs Gaspedal, und der Abstand zum Ufer verringerte sich - doch dort war die Straße bereits flüssig geworden, und die Metamorphose dehnte sich aus.
    »Halt an!« rief Pie. »Wenn wir nicht aussteigen, gehen wir mit dem Wagen unter.«
    Zacharias bremste, und sie sprangen nach draußen. Der
    ›Boden‹ unter ihren Füßen war noch immer fest genug, um darauf zu laufen, doch deutlicher werdende Vibrationen kündigten die unmittelbar bevorstehende Verflüssigung an.
    »Kannst du schwimmen?« wandte sich Gentle an Pie.
    »Wenn's sein muß«, erwiderte der Mystif und beobachtete die heranrollende Flut. Das Wasser glänzte wie Quecksilber, und zahllose Fische schienen darin zu zappeln. »Ich bezweifle jedoch, ob wir in einem solchen Etwas baden möchten.«
    »Ich fürchte, uns bleibt keine Wahl.«
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    Zacharias hoffte auf die Rettung im letzten Augenblick.
    Boote wurden vom Ufer ins Meer geschoben, und Ruder trieben sie an. Die in regelmäßigen Abständen erklingenden Rufe der Ruderer übertönten das Tosen des silbernen Wassers.
    Pie blickte nicht in die entsprechende Richtung; seine Hoffnung bezog sich vielmehr auf einen Pfad aus Festigkeit, einen schmalen Weg, der bis zur Insel reichte. Er streckte den Arm aus und stieß Gentle an.
    »Ja, ich seh's!« Zacharias und Pie liefen los, folgten der zickzackförmigen Route und blickten immer wieder zu den Booten hinüber. Die Ruderer verstanden ihre Absicht und änderten den Kurs, um sie auf halbem Wege zur Insel in Empfang zu nehmen. Zwar fraß die Flut auch weiterhin an dem
    ›Steg‹, doch die Möglichkeit des Entkommens rückte in greifbare Nähe - als sich Gentle ablenken ließ. Hinter ihm gurgelte und zischte es, das gestohlene Auto ging unter, und instinktiv drehte er sich um. Einen Sekundenbruchteil später rutschte er aus und prallte gegen Pie, der ebenfalls das Gleichgewicht verlor und fiel. Gentle zerrte ihn sofort wieder auf die Beine, aber der Mystif war zunächst zu benommen, um das Ausmaß der Gefahr zu erkennen.
    Die warnenden Stimmen der Ruderer wurden noch lauter, und hinzu kam ein fauchendes Brodeln. Gentle stützte Pie, hievte sich ihn halb auf den Rücken und eilte weiter. Wertvolle Sekunden waren vergeudet worden. Nur noch zwanzig Meter trennten ihn vom ersten Boot. Wenn er stehenblieb, löste sich die letzte Festigkeit unter ihm auf, bevor das Boot herankam.
    Sollte er weiterlaufen?
    Die Umstände erlaubten es ihm nicht, eine Entscheidung zu treffen. Unter dem Gewicht von Mensch und Mystif splitterte das ›Eis‹ - das silbrige Wasser der Wiege sprudelte empor. Er hörte den warnenden Ruf der Gestalt im ersten Boot - ein Oethac, der Schädel riesig, die weiße Haut zernarbt -, und einen Augenblick später brach sein rechter Fuß durch die 440

    dünne Schicht. Pie stand nun wieder auf eigenen Beinen, und diesmal zog er Gentle hoch. Doch es hatte keinen Sinn - der Boden trug jetzt weder Zacharias noch den Mystif.
    Verzweifelt starrte Gentle auf die Flüssigkeit hinab, in die er eintauchen sollte. Zuvor hatte er den Eindruck gewonnen, daß Fische im quecksilberartigen Wasser schwammen, doch das stellte sich nun als optische Täuschung heraus: Es handelte sich nicht um selbständige Geschöpfe, sondern um Teile des Meeres. Jede kleine Welle war mit Hals und Rücken ausgestattet; das Glitzern der Gischt stammte von vielen winzigen Augen. Das Boot glitt noch immer näher, und fast hatte es den Anschein, als könnten sie es rechtzeitig erreichen.
    »Los!« rief Gentle dem Mystif zu und gab ihm einen heftigen Stoß.
    Pie schwankte, doch in seinen Beinen steckte genug Kraft, um den Fall in einen Sprung zu verwandeln. Er bekam die Kante des Bootes zu fassen, zog sich hoch und in Sicherheit und streckte dann die Arme aus, um Gentle zu helfen.
    Zacharias wollte ebenfalls springen, aber er rutschte aus und fiel in ein Naß, das mehr war als nur Wasser. Die silberne Flüssigkeit schloß sich wie ein lebendes Ding umihn; er riß die Arme hoch, damit der Oethac ihn greifen könne - vergeblich.
    Keine fremden Hände halfen ihm, er sank mit Körper und Geist ins Nichts.
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KAPITEL

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