Imagica
Mystif von seiner vermeintlichen Schuld. All dies wäre nicht geschehen, wenn er von Anfang an die notwendige Rücksicht auf Gentles Empfindungen genommen hätte, meinte Pie. Er bezeichnete sein eigenes Verhalten als rücksichtslos und unhöflich. Zum Beispiel der Zwischenfall auf dem Bahnsteig von Mai-Ke.
Durfte er sich dafür jemals Vergebung erhoffen? Würde Gentle irgendwann einmal bereit sein zu glauben, daß allein Ungeschick dahintersteckte, nicht etwa Absicht? Im Lauf der Jahre hatte sich Pie immer wieder gefragt, was geschehen würde, wenn er eine solche Reise unternahm, doch er war in der Fünften Domäne allein gewesen, ohne die Möglichkeit, seine Sorgen und Hoffnungen mit jemandem zu teilen. Als er Gentle begegnete... Das Kennenlernen und der Reisebeginn kamen so plötzlich, daß dem Mystif kaum Zeit blieb, sich der besonderen Umstände bewußt zu werden.
»Verzeih mir«, sagte er immer wieder. »Ich liebe dich, und doch habe ich dich verletzt. Bitte verzeih mir.«
Gentle versuchte, mit den Augen zu antworten und wünschte sich genug Kraft in den Fingern, um schlicht und einfach Ja zu schreiben. Doch seine Rekonvaleszenz kam nicht voran. Pie fütterte und wusch ihn, massierte ihm die Muskeln, aber die Heilung machte keine Fortschritte mehr. Die ermutigenden, zuversichtlichen Worte des Mystifs hinderten Gentle nicht an der Erkenntnis, daß sich der Tod noch immer ein Opfer erhoffen durfte. Vielleicht lag er auch bei Pie auf der Lauer?
Manchmal bemerkte Gentle einen Schatten im Gesicht des Mystifs und fragte sich, ob allein Erschöpfung der Grund dafür war. Gab es nach den gemeinsam verbrachten Monaten eine 449
symbiotische Verbindung zwischen ihnen? Wenn diese Vermutung stimmte... Dann nehme ich Pie ins Nichts mit, wenn ich sterbe...
An jenem Tag, als neuerlicher Sonnenschein die Wolken durchdrang, befand sich Zacharias allein in seiner Zelle, doch Pie hatte ihn mit dem Oberkörper an die Wand gelehnt zurückgelassen. Er konnte durch das vergitterte Fenster sehen und beobachten, wie Lücken in der dichten Wolkendecke entstanden, wie blasse Sonnenstrahlen zum Meer tasteten. Es geschah nun zum erstenmal seit ihrer Ankunft auf der Insel, daß das Grau einem herrlichen Funkeln wich. Gentle hörte begeisterte Stimmen aus anderen Zellen, die hastigen Schritte von Wächtern an den Brüstungen und Geländern. Von seinem Sitzplatz aus sah er die Oberfläche der Wiege und fühlte Aufregung angesichts des unmittelbar bevorstehenden Spektakels. Und dann, als der Sonnenschein heller wurde...
spürte er ein seltsames Zittern in seinem Innern, eine Vibration, die von den Zehenspitzen ausging und immer mehr zunahm, die seine Gedanken fortschleuderte, als sie den Kopf erreichte.
Zuerst glaubte er, aufgestanden und zum Fenster geeilt zu sein
- er blickte durchs Gitter nach unten aufs Meer -, doch ein Geräusch an der Tür, das ihn veranlaßte, sich umzudrehen, zeigte ihm seinen Irrtum. Scopique und Aping schritten durch den Raum, näherten sich einem bleichen, bärtigen Mann, der an der gegenüberliegenden Wand saß und aus trüben Augen ins Nichts starrte. Das bin ich, dachte Gentle.
»Sehen Sie sich das an, Zacharias!« sagte Scopique voller Enthusiasmus und zog den Reglosen behutsam hoch.
Aping half ihm, und gemeinsam trugen sie Gentle zum Fenster. Das dort schwebende Selbst wandte sich von den Besuchern und seinem Körper ab und gab der in ihm brennenden Aufregung nach. Durch den grauen Korridor flog es, vorbei an Zellen, in denen die bittenden, flehentlichen Stimmen von Gefangenen erklangen: Sie wollten freigelassen 450
werden, um die Sonne, beziehungsweise die beiden Sonnen -
zu sehen. Gentles Ich wußte nichts von der Struktur des Gebäudes und verirrte sich in dem Labyrinth aus farblosem Stein. Kurze Zeit später begegnete es zwei Wächtern, die eine Treppe hochliefen, und folgte ihnen in einen Bereich mit helleren Räumen. Dort unterbrachen andere Uniformierte ihre Kartenspiele, um nach draußen zu gehen.
»Wo ist Captain N'ashap?« fragte einer von ihnen.
»Ich gebe ihm Bescheid«, erwiderte ein anderer und näherte sich einer geschlossenen Tür.
Die Stimme eines dritten Wächters erklang: »Er ist in einer Besprechung. Mit dem Mystif.« Diese Worte bewirkten allgemeines Gelächter.
Gentles Seele wandte sich um, glitt zur Tür und passierte sie, ohne dabei irgendeinen Widerstand zu spüren. Die Kammer hinter der Pforte war nicht etwa N'ashaps Büro, sondern ein Vorzimmer, dessen Einrichtung
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