Imagica
und küßte ihn auf die Lippen. Seine Gesichtszüge zeigten jetzt nur noch innige Freude.
»Ich liebe dich«, murmelte er. »Ich liebe dich bis zum Tod der Liebe.«
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Gentle lebte, aber er war nicht geheilt. Man brachte ihn in ein kleines Zimmer, dessen Wände aus grauen Ziegelsteinen bestanden, und legte ihn dort auf ein Bett, das kaum weicher und bequemer war als die Bahre. Das nahe Fenster nützte ihm nur wenig. Er steckte nach wie vor in einem Kokon der Bewegungslosigkeit und konnte nur dann nach draußen sehen, wenn Pie'oh'pah ihn hochhob. Das Panorama erwies sich als ebenso uninteressant wie der Anblick grauer Mauern: ein weites Meer (jetzt wieder fest) unter einem wolkenverhangenen Himmel.
»Die See verändert sich nur, wenn die Sonne scheint«, erklärte der Mystif. »Was nur selten geschieht. Wir hatten Pech. Wie dem auch sei: Es erstaunt alle, daß du überlebt hast.
Wer in die Wiege sinkt, kommt nie wieder lebend zum Vorschein. Du bist die einzige Ausnahme.«
Schon die Anzahl der Besucher wies darauf hin, daß Gentle eine Art Kuriosität darstellte - es kamen sowohl Wächter als auch Gefangene. Offenbar ging es in der Anstalt nicht besonders streng zu. Die Fenster waren vergittert, und die Tür wurde jedesmal verriegelt, wenn Besucher gingen, aber das hier tätige Personal stellte sich als recht freundlich heraus. Das galt auch für den Leiter des Instituts, einen Oethac namens Vigor N'ashap, sowie seinen Stellvertreter, einen militärischen Geck, der Aping hieß und immer auf Hochglanz polierte Stiefel trug; selbst die Knöpfe an seiner Uniform leuchteten heller als die Augen. Seine Züge wirkten meist schlaff.
»Die Leute hier draußen bekommen kaum Nachrichten«, erläuterte Pie. »Man schickt ihnen nur Gefangene, die hier eingesperrt werden sollen. N'ashap weiß von dem Anschlag auf das Leben des Autokraten, aber er hat sicher keine Ahnung, ob die Verschwörung einen Erfolg erzielte. Ich bin stundenlang verhört worden, doch nur wenige Fragen bezogen sich auf uns.
Ich habe uns als Freunde von Scopique vorgestellt: Als wir 447
gehört hätten, daß er den Verstand verloren habe, hätten wir beschlossen, ihn hier zu besuchen. Mit anderen Worten: Wir sind vollkommen unschuldig. Man scheint uns zu glauben.
Andererseits... Alle acht oder neun Tage trifft Nachschub ein -
Nahrungsmittel, Zeitschriften, Zeitungen und dergleichen. Die Informationen sind nie aktuell, meint Aping, aber wenn man tatsächlich eine Fahndung nach uns eingeleitet hat, so wird man auch hier davon erfahren, früher oder später. Wir dürfen also nicht damit rechnen, daß unser Glück von Dauer ist. In der Zwischenzeit... Ich sorge dafür, daß N'ashap und Aping glücklich sind. Sie haben sehr unter der Einsamkeit gelitten.«
Die Bedeutung der letzten beiden Bemerkungen entging Gentle nicht, aber er konnte nur zuhören und hoffen, daß seine Genesung möglichst wenig Zeit in Anspruch nahm. In manchen Muskeln ließ die Anspannung allmählich nach: Er konnte die Lider heben und senken, schlucken, sogar ein wenig die Hände bewegen - doch der Rest des Körpers blieb gelähmt.
Abgesehen von Pie gab es noch einen anderen regelmäßigen Besucher, der sich als recht unterhaltsam erwies: Scopique.
Pies Freund war ein kleiner Mann und hatte den typischen Blick eines Uhrmachers. Seine Nase war so sehr nach oben gedreht, daß die winzigen Nasenlöcher wie zwei Öffnungen mitten in einem Gesicht aussahen, das zahllose Lachfalten zur Schau stellte. Scopique zögerte nie, sich über irgend etwas eine Meinung zu bilden, und dazu gehörte auch die Starre des Patienten. Er kam jeden Tag und setzte sich auf die Kante von Gentles Bett, die Anstaltskleidung so zerknittert wie seine Miene. Er trug eine Perücke aus glänzendem schwarzem Haar, doch sie nahm nie den gleichen Platz auf seinem Kopf ein, sondern rutschte immer hin und her. Während er Kaffee schlürfte, hielt er lange Vorträge, meistens in einem belehrenden Tonfall: Über die Unterjochung L'Himbys durch Geld und Konsum; über den Tod seiner Freunde, verursacht durch etwas, das er als ›langsames Schwert der Verzweiflung‹
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bezeichnete; und natürlich über Gentles Zustand. Mehrmals betonte er, schon einmal Fälle von Erstarrung gesehen zu haben, und der Grund dafür sei nicht etwa physiologischer Natur, sondern psychologischer. Auch Pie schien diese Theorie für eine plausible Erklärung zu halten. Einmal, als Scopique nach langem Theoretisieren ging, sprach der
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