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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gebraucht - und erwies sich als außerstande, die Notlage eines Mannes zu fühlen, den er als Freund bezeichnete. Ich bin mehr als ein Freund, dachte Gentle. Ich bin ein Seelenpartner. Pie hat sich für mich verwandelt, hat sich für mich in eine andere Gestalt gegeben.
    Das Zittern der Furcht in Zacharias ließ ein wenig nach, als er in den letzten Gedanken eine mögliche Lösung für sein Problem erahnte. Er rief sie sich noch einmal ins Gedächtnis zurück. Seelenpartner? Verwandlung? Neue Gestalt? Ja, natürlich! Solange er zum Denken fähig war, konnte er auch begehren, und Begierde blieb nicht ohne Einfluß auf den Mystif, veränderte ihn. Wenn es Gentle gelang, sich auf Sexuelles zu besinnen, so erreichte er vielleicht Pies proteischen Kern und bewirkte eine - wenn auch nur geringfügige - Metamorphose, die beweisen würde, daß er noch lebte.
    Eine Bemerkung von Chester Klein drang wie ein Flüstern in Zacharias' Gedächtnis, schien ihn verwirren zu wollen: 444

    »Soviel Zeit, die man damit verschwendet, an den Tod zu denken - um nicht zu früh zum Höhepunkt zu kommen...«
    Es verstrichen einige Sekunden, bevor Gentle die Reminiszenz als das exakte Gegenteil seiner aktuellen Situation erkannte: Allein Lust konnte ihn vor dem Tod bewahren. Er konzentrierte sich auf die kleinen Details, die seine erotische Fantasie immer besonders stimuliert hatten: ein Nacken, der unter hochgehobenen Locken sichtbar wurde; eine Zunge, die ganz langsam Lippen befeuchtete; Blicke; Berührungen - und so weiter. Doch Thanatos hatte Eros fest im Griff. Das Zittern der Furcht in Gentle nahm wieder zu und verdrängte die Erregung. Wie konnte er sexuelle Bilder lange genug vor seinem inneren Auge festhalten, wenn die Flammen eines Scheiterhaufens oder das Grab auf ihn warteten? Für so etwas war er noch nicht bereit. Das eine zu heiß, das andere zu kalt; das eine zu hell, das andere viel zu dunkel. Er wollte noch einige Wochen, Tage, auch nur Stunden leben - selbst einige zusätzliche Stunden hätten ihn mit Dankbarkeit erfüllt. Er wollte dorthin, wo Fleisch existierte, wo es Liebe gab. Gentle wußte, daß er den Todesgedanken nicht entkommen konnte, und deshalb versuchte er es mit einem Trick: Er öffnete ihnen sein ganzes Ich, integrierte sie in die sexuellen Imaginationen.
    Flammen? Sie symbolisierten die Wärme von Pies Körper, der sich an ihn schmiegte; kalt war der Schweiß an seinem Rücken, als sie sich vereinten. Die Dunkelheit entsprach der samtenen Schwärze der Nacht, die sie beim Geschlechtsakt umhüllt hatte, und das Leuchten des Feuers kam dem Licht ihrer Leidenschaft gleich. Gentle spürte, wie diese Strategie zu funktionieren begann. Warum sollten sich Tod und Erotik widersprechen? Wenn er zusammen mit Pie verbrannte, oder wenn sie Seite an Seite verfaulten... Asche vermischte sich mit Asche, Schleim mit Schleim. Gab es eine vollständigere und endgültigere Vereinigung?
    Er hatte Pie'oh'pah die Heirat vorgeschlagen, und der Mystif 445

    war damit einverstanden gewesen. Das sonderbare, geheimnisvolle Geschöpf gehörte allein ihm, Gentle; es gab ihm die Möglichkeit, alle seine sexuellen Wünsche zu erfüllen. Er stellte sich vor, wie es rittlings auf ihm hockte und sich dabei ständig veränderte, einfach die Haut abzustreifen schien, um eine neue Gestalt anzunehmen. Pie verwandelte sich in Judith und Vanessa, auch in Martine. Sie alle ritten auf Zacharias - die Schönheit der physischen Welt, auf seinem Glied aufgespießt.
    Gentle ging so sehr in den Fantasiebildern auf, daß er gar nicht merkte, daß die Betenden stehenblieben. Er erwachte erst aus seinem erotischen Traum, als auch die Bahrenträger verharrten. Stimmen flüsterten um ihn herum, und irgendwo erklang leises, erstauntes Lachen. Das Tuch wurde beiseite gerissen, und Pie starrte auf ihn herab - seine Augen schwammen in Tränen, und seine Züge schienen noch sanfter und weicher.
    »Er lebt! Jesus, er lebt! «
    Jemand äußerte Zweifel, aber der Mystif hielt an seiner Überzeugung fest.
    »Ich spüre ihn in mir!« stieß er hervor. »Ich schwöre es! Er ist noch immer bei uns. Stellt die Bahre ab. Stellt die Bahre ab!«
    Die Träger kamen der Aufforderung nach, und zum erstenmal sah Gentle die Fremden, die entschlossen gewesen waren, ihn zu bestatten. Sie wirkten nicht besonders glücklich, starrten noch immer skeptisch und ungläubig auf den reglosen Körper. Doch die Gefahr für Zacharias war zunächst einmal vorbei. Pie beugte sich über Gentle

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