Imagica
»Wo?«
Das Parfüm und die Bettvorhänge widerten ihn an. Wütend zerrte er an der hauchdünnen Seide, und die Zofe sah schweigend zu - bis er nach der auf dem Kopfkissen liegenden Bibel griff und Anstalten machte, Seiten herauszureißen.
»Bitte!« quiekte Concupiscentia. »Bitte nicht! Werde geschlagen ich, wenn beschädigt das Buch. Quaisoir es liebt über alles.«
Die Aussprache der Zofe erinnerte ihn an Pidgin-Englisch, und das Feuer der Wut brannte noch heißer in ihm. Er riß mehrere Seiten aus der Bibel, damit Concupiscentia noch einmal kreischte - sie wurde seinen Erwartungen gerecht.
»Ich will Kreauchee!«
»Ich bringen es, ich bringen es!« versicherte ihm das Wesen.
555
Es führte ihn aus dem Schlafzimmer in eine große Ankleidekammer und suchte dort in den vergoldeten Schatullen auf Quaisoirs Kommode. Als Concupiscentia den Kopf hob und den Autokraten im Spiegel sah, lächelte sie wie ein schuldbewußtes Kind und holte ein Päckchen aus dem kleinsten Kasten. Er griff danach, noch bevor sie es ihm reichen konnte. Der Geruch verriet ihm sofort eine ausgezeichnete Qualität, und er verlor keine Zeit damit, den Brocken auszuwickeln, sondern stopfte ihn sich so in den Mund.
»Braves Mädchen«, sagte er zu Concupiscentia. »Braves Mädchen. Und nun... Weißt du, wo sich deine Herrin aufhält?«
Die Zofe schüttelte einmal mehr den Kopf. »Häufig am Abend sie geht allein durch Kesparaten. Manchmal verkleidet als Bettler, manchmal als...«
»Hure.«
»Nein, nein. Quaisoir keine Hure.«
»Damit vertreibt sie sich also die Zeit, wie?« brummte der Autokrat. »Geht auf den Strich. Bietet sich an. Aber warum so früh? Ist sie nachmittags billiger?«
Das Kreauchee war noch besser, als er es sich erhofft hatte.
Er spürte, wie es zu wirken begann, während er sprach, wie es die Melancholie vertrieb und durch ein angenehmes Prickeln ersetzte. Zwar war er seit vier Jahrzehnten nicht mit Quaisoir intim gewesen (was er keineswegs bedauerte), aber manchmal setzte ihm ihre Untreue zu. Unter bestimmten Umständen führte sie sogar zu Depressionen. Die Droge befreite ihn von solchen Empfindungen. Selbst wenn die Königin mit fünfzig anderen Männern schlief - sie wich nicht einen Zentimeter von seiner Seite. Es spielte keine Rolle, ob sie sich liebten oder verachteten; das Schicksal sorgte dafür, daß sie unzertrennlich wurden. Und es blieben, bis zur Apokalypse, bis zum Weltuntergang.
»Sie nicht auf Strich«, protestierte Concupiscentia und 556
schien dazu entschlossen, die Ehre ihrer Herrin zu verteidigen.
»Sie unten in Schlacke.«
»Schlacke? Warum?«
»Hinrichtungen«, antwortete die Zofe. Dieses Wort hatte sie von Quaisoir gelernt und sprach es fehlerfrei aus.
»Hinrichtungen?« wiederholte der Autokrat und fühlte, wie sich trotz des Kreauchees vages Unbehagen in ihm regte. »Wer wird hingerichtet?«
Erneut schüttelte Concupiscentia den Kopf.
»Ich nicht wissen«, erwiderte sie. »Nur Hinrichtungen. Sie zusehen und beten...«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Wir alle beten für Seelen, auf daß der Unerblickte sie gnädig empfange...«
Auch diese Worte klangen wie auswendig gelernt und erinnerten den Autokraten an christliche Litaneien. Er reagierte mit dem gleichen Ekel wie zuvor auf Einrichtungen und Ausstattung der Gemächer. In beiden Fällen steckte Quaisoir dahinter. Ihre Liebe für den Mann der Schmerzen hatte sie erst vor wenigen Monaten entdeckt, aber schon glaubte sie, seine Braut zu sein. Ein weiterer Beweis für ihre Untreue, wie viele andere vorher, zwar weniger syphilitischer Natur, doch ebenso erbärmlich.
Der Autokrat wandte sich von Concupiscentia ab und beauftragte seinen Leibwächter, Rosengarten Bescheid zu sagen.
Einige Dinge mußten geklärt werden, und zwar schnell - sonst rollten die Köpfe nicht nur im Kesparat namens Schlacke.
2
Während sie dem Verlauf des Fastenwegs folgten, gelangte Gentle allmählich zu dem Schluß, daß Huzzah keine Belastung darstellte, sondern sogar ein Segen war. Vermutlich verdankten sie es nur ihrer Präsenz auf dem erstarrten Meer der Wiege, daß die Göttin Tishalulle zu ihren Gunsten eingegriffen hatte. Und 557
die Reise per Anhalter brachte nur deshalb wenige Probleme, weil ein reizendes, sympathisches Kind bei ihnen weilte. Trotz ihrer langen Isolation in der Anstalt (oder vielleicht gerade deshalb) zeigte Huzzah großen Eifer, wenn es darum ging, jemanden in ein Gespräch zu verwickeln. Durch die Antworten auf ihre
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