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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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»Oder nackt! Ja, das ist noch besser: nackt!«
    Der Autokrat versuchte nicht, die Königin festzuhalten, statt dessen wich er von ihr zurück, als sei ihr Wahnsinn ansteckend. Stumm sah er zu, während sie so ungestüm an ihrem dünnen Überwurf zerrte, daß nicht nur der Stoff unter ihrem Eifer litt - Fingernägel bohrten sich in die Haut darunter, und Blut quoll aus kleinen Wunden. Gleichzeitig betete Quaisoir laut, sank auf die Knie, bat Ihn um Verzeihung und versicherte, sie käme bald zu Ihm. Als sie sich in ihrer religiösen Hysterie dem Altar zuwandte, verlor der Autokrat die Geduld, packte sie am Haar und riß sie zurück.
    »Hast du mir nicht zugehört?« Mitleid und Abscheu wurden von einem Zorn verdrängt, den nicht einmal die beruhigende Wirkung des Kreauchees zu unterdrücken vermochte. »Es gibt nur einen Herrn in Yzordderrex!«
    Er stieß Quaisoir beiseite, brachte mit drei langen Schritten die Treppe zum Altar hinter sich, holte mit dem rechten Arm aus und fegte die Kerzen beiseite. Dann stieg er auf den Gottestisch und griff nach dem Kreuz. Quaisoir kreischte, und er bekam ihre Fäuste zu spüren. Doch der Autokrat ignorierte sie und versuchte auch weiterhin, das Kruzifix zu zerstören.
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    Der goldene Seraph löste sich zuerst, sank von hölzernen Wolken herab und fiel zu Boden. Die Hände des Herrschers schlossen sich um den Kopf des Heilands - er spannte die Muskeln an, zog mit ganzer Kraft. Die Dornen der Krone bohrten sich ihm in Handflächen und Finger, doch die stechenden Schmerzen bestärkten ihn nur in seiner Entschlossenheit, und das Knirschen von splitterndem Holz verkündete einen Triumph. Das Kreuz löste sich von der Wand, und er trat zur Seite, überließ den Rest der Schwerkraft.
    Ein oder zwei Sekunden glaubte er, daß Quaisoir verrückt genug wäre, um sich unter das große Kruzifix zu werfen, doch dann sprang sie beiseite; das Kreuz schmetterte zum Seraph hinab und prallte krachend auf den steinernen Boden.
    Der Lärm blieb nicht auf die Ohren des Autokraten und seiner Gemahlin beschränkt. Der Herrscher stand noch immer auf dem Altar und sah, wie Rosengarten mit gezückter Waffe durch den Mittelgang eilte.
    »Keine Sorge!« rief er ihm zu. »Das Schlimmste ist vorbei.«
    »Sie bluten, Sir.«
    Der Autokrat beleckte seine Finger. »Bitte bringen Sie meine Frau zu ihren Gemächern.« Er spuckte mit kleinen Blattgoldsplitterchen durchsetztes Blut aus. »Ihr sind keine Messer oder anderen scharfen Gegenstände erlaubt, mit denen sie sich verletzen könnte. Ich fürchte, sie ist sehr krank. Von jetzt an müssen wir Tag und Nacht über sie wachen.«
    Quaisoir kniete neben dem Kreuz und schluchzte.
    »Ich bitte dich, Teuerste...« Der Autokrat verließ seinen Platz auf dem Altar und näherte sich der Frau. »Warum verschwendest du deine Tränen an einen Toten? Verehre nichts
    - es sei denn, in Liebe...«, er zögerte, von seinen eigenen Worten verwirrt, »...in Liebe zu deinem wahren Selbst.«
    Quaisoir hob den Kopf, wischte Tränen fort und sah ihn an.
    »Ich habe etwas Kreauchee für dich«, sagte der Herrscher.
    »Um dir ein wenig Frieden zu schenken.«
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    »Ich will kein Kreauchee«, murmelte die Frau tonlos. »Ich möchte Vergebung.«
    »Hiermit vergebe ich dir«, proklamierte der Autokrat.
    »Es liegt mir nichts daran, daß du mir verzeihst«, antwortete Quaisoir ihrem Mann.
    Eine Zeitlang beobachtete er ihren Kummer.
    »Wir wollten ewig lieben und leben«, sagte er sanft. »Wann bist du so alt geworden?«
    Die Trauernde schwieg, und der Autokrat überließ sie ihrer Verzweiflung. Rosengartens Untergebener Seidux traf ein und kümmerte sich um Quaisoir.
    »Seien Sie rücksichtsvoll«, wandte sich der Herrscher an Seidux, als sie zur Tür schritten. »Einst war sie eine großartige Frau.«
    Er wartete nicht, um zu beobachten, wie man Quaisoir fortbrachte, statt dessen ging er mit Rosengarten zu den Generälen Mattalaus und Racidio. Nach seiner Aktion in der Kapelle fühlte er sich besser. Zwar blieb er wie jeder große Maestro vom Alter unberührt, aber er war nicht vor Trägheit geschützt: Manchmal mußte er sich Bewegung verschaffen, um Körper und Geist wachzurütteln. Gab es dazu eine bessere Möglichkeit als die Zerstörung von Götzenbildern?
    Doch als sie an einem Fenster vorbeikamen, das Ausblick auf die Stadt gewährte, wich der forsche Mut aus dem Autokraten. Viel zu deutlich waren die Anzeichen von Chaos und Vernichtung. Zwar hatte er erst vor wenigen Minuten

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