Imagica
ganz besondere Art von Hinrichtung hinausläuft?«
629
»Ja, genau das glaubt er. Und vielleicht hat er recht. Aber dies könnte die letzte Nacht der Domäne sein, und dadurch bekommen letzte Dinge einen Einfluß, der ihnen vorher fehlte.«
»Auch ich bin etwas Letztes.«
»Ja.«
Der Mystif nickte. »Ich verstehe«, sagte er. »Und es scheint richtig zu sein.«
»Gut«, erwiderte Culus. Das Gerichtsverfahren war jetzt zu Ende, doch Richterin und Angeklagter rührten sich nicht von der Stelle. »Möchten Sie etwas fragen?«
»Ja.«
»Ich höre.«
»Wissen Sie von einem Schamanen namens Arae'ke'gei?
Lebt er noch?«
Ein dünnes Lächeln umspielte Culus' Lippen. »Ich habe damit gerechnet, daß Sie mich auf ihn ansprechen. Er gehörte zu den Überlebenden des Rekonziliationsversuchs, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich kannte ihn nicht sehr gut«, sagte die Richterin. »Aber ich hörte, wie er Ihren Namen nannte. Er hielt länger am Leben fest als viele andere Leute in einer ähnlichen Lage - weil er davon überzeugt war, daß Sie früher oder später zurückkehren würden. Er hatte keine Ahnung, daß Sie einem Maestro gehorchen mußten.« Culus'su'erais Stimme klang fast beiläufig, aber der Blick ihrer blutunterlaufenen Augen durchbohrte Pie.
»Warum sind Sie in der Fünften geblieben, Mystif? Berufen Sie sich jetzt nicht auf irgendeine Bindung. Solche Fesseln hätten sie abstreifen können, wenn das wirklich Ihre Absicht gewesen wäre - insbesondere während der Wirren nach dem gescheiterten Rekonziliationsversuch. Aber Sie trugen sie auch weiterhin. Sie entschieden sich, bei Sartori zu bleiben, obgleich Mitglieder Ihrer eigenen Familie durch seine Inkompetenz ums 630
Leben kamen.«
»Er war ein gebrochener Mann. Und ich bin nicht nur sein Intimus gewesen, sondern auch sein Freund. Wie konnte ich ihn im Stich lassen?«
»Das ist noch nicht alles«, fuhr Culus fort. Aufgrund ihrer Erfahrungen als Richterin erkannte sie, daß noch mehr dahintersteckte. »Was haben Sie bisher verschwiegen, Mystif?
Dies ist die Nacht der letzten Dinge, erinnern Sie sich? Wenn Sie jetzt nicht Auskunft geben, sind Sie vielleicht nie mehr dazu imstande.«
Pie nickte langsam. »Na schön. Ich habe immer gehofft, daß ein zweiter Rekonziliationsversuch unternommen wird. Und nicht nur ich gab mich einer solchen Hoffnung hin.«
»Arae'ke'gei leistete Ihnen dabei Gesellschaft, wie?«
»Ja.«
»Deshalb nannte er immer wieder Ihren Namen. Deshalb wollte er unbedingt bis zu ihrer Rückkehr überleben.«
Culus'su'erai schüttelte den Kopf. »Warum schwelgen Sie in derartigen Wunschvorstellungen? Es wird keine Rekonziliation geben. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall. Vielleicht platzt Imagica an den Nähten auseinander. Vielleicht sind bald alle Welten voneinander getrennt, und dann bleibt jede Domäne ihrem eigenen Elend überlassen.«
»Eine schreckliche Vision.«
»Aber eine realistische.«
»In den einzelnen Domänen gibt es nach wie vor Personen, die nicht aufgeben, die zu einem weiteren Versuch bereit sind«, sagte Pie. »Zweihundert Jahre lang haben sie gewartet; zweihundert Jahre lang haben sie gehofft.«
»Arae'ke'geis Ausdauer genügte nicht«, unterbrach Culus'-
su'erai den Mystif. »Er starb vor zwei Jahren.«
»Mit dieser Möglichkeit habe ich gerechnet. Er war schon recht alt, als wir uns zum letztenmal sahen.«
»Wenn es Ihnen ein Trost ist: Bis zum letzten Atemzug 631
trugen seine Lippen Ihren Namen. Er nahm die Hoffnung mit ins Jenseits.«
»Sicher sind andere in der Lage, die notwendigen Zeremonien durchzuführen.«
»Ich hatte recht, als ich Sie als Narr bezeichnete, Mystif.«
Die Richterin setzte sich in Bewegung, schritt zur Tür.
»Warum verhalten Sie sich auf diese Weise? Im Gedenken an Ihren Maestro?«
Pie begleitete Culus'su'erai, öffnete die Tür und trat in ein von Rauch erfülltes Zwielicht.
»Warum sollte mir etwas daran gelegen sein?« erwiderte er.
»Weil Sie ihn liebten.« Culus sah den Mystif vorwurfsvoll an. »Das ist der wahre Grund dafür, warum Sie nicht zurückgekehrt sind. Sie liebten ihn mehr als Ihr eigenes Volk, als Ihre eigene Familie.«
»Vielleicht stimmt das«, räumte Pie ein. »Aber warum sollte ich irgend etwas im Gedenken an Lebende tun?«
»An Lebende?«
Der Mystif schmunzelte, verneigte sich vor der Richterin und wich vom Licht im Bereich der Tür zurück, verschmolz allmählich mit der Dunkelheit.
»Sartori war ein gebrochener Mann, aber er ist nicht
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