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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Bereitschaft zeigte, sich von ihm führen zu lassen. Tränen schimmerten in ihren Augen, als sie begriff, daß sie nicht allein war. Der Sohn Davids kannte ihren Schmerz und hatte einen Boten geschickt, der in ihr wisperte.
    »Ipse«, hörte Quaisoir. »Ipse.«
    Natürlich wußte sie, was dieses Wort bedeutete. Sie hatte das Theater häufig besucht und dabei immer eine Maske getragen -
    alle Frauen der sogenannten besseren Gesellschaft maskierten sich, wenn sie einen Ort zweifelhafter Moral aufsuchten. Sie erinnerte sich an die Werke von Pluthero Quexos, an Inszenierungen von Flotter, an die manchmal recht primitiven Farcen von Kopocovi. Es erschien ihr seltsam, daß der Mann der Schmerzen einen solchen Ort wählte, aber sie begriff auch: Es stand ihr nicht zu, Seine Entscheidungen in Frage zu stellen.
    »Ich habe verstanden«, sagte sie laut.
    Die Stimme in ihrem Kopf war noch nicht ganz verklungen, 637

    als Quaisoir bereits durch die Gärten eilte, in Richtung jenes Tors, von dem aus sie das Kesparat namens Deliquium erreichen konnte - dort hatte Pluthero der Kunst einen Schrein errichtet, der nun bald der Wahrheit geweiht werden sollte.
    Judith zog die Hände vom Fenster zurück und öffnete die Augen. Diesmal hatte ihr die geistige Wanderung keine so deutlichen Bilder gezeigt wie beim letzten Mal, während des Schlafs. Sie wußte nicht einmal genau, ob tatsächlich ein Kontakt erfolgt war. Wie dem auch sei: Es bot sich ihr keine Gelegenheit, einen neuerlichen Versuch zu unternehmen.
    Dowd rief sie, ebenso wie die Straßen von Yzordderrex, obgleich sie in Flammen standen. Vom Fenster aus hatte sie gesehen, wie Blut vergossen wurde: Überfälle und Angriffe; Truppen, die vorrückten und sich wieder zurückzogen; Zivilisten, die wilde Haufen bildeten; andere formten paramilitärische Brigaden. In einem solchen Chaos konnte Jude kaum feststellen, wer für eine gerechte Sache eintrat. Und eigentlich spielte es auch gar keine Rolle für sie. Es ging in erster Linie darum, ihre Schwester in dem Mahlstrom zu finden, in der Hoffnung, dann mit ihr reden zu können.
    Die Begegnung stellte vermutlich eine Enttäuschung für Quaisoir dar - Judith war nicht der Bote des Herrn, den sie erwartete. Aber ob himmlische Herren oder weltliche: Sie kamen nicht als Erlöser, wie Legenden behaupteten, sondern als Verderber und Zerstörer. Den Beweis dafür hielten nun die Straßen bereit, die sich vor Jude erstreckten. Wenn sie diese Vision zu Quaisoir trug und mit ihr teilte, so mochte sie imstande sein, die Enttäuschung in Freude über das Treffen mit einer Schwester zu verwandeln - ein Treffen, das Judith immer mehr für ein Wiedersehen hielt.
    638

KAPITEL 35
l
    Gentle fragte immer wieder nach dem Weg, und meistens antworteten ihm Verwundete. Er brauchte mehrere Stunden, um von der Geilen Gasse zum Kesparat des Mystifs zu gelangen, und während dieser Zeit rutschte Yzordderrex immer schneller ins Chaos. Er rechnete fast damit, daß die Straßen mit den schlichten Häusern und blühenden Blumen gar nicht mehr existierten. Doch als er schließlich die Stadt innerhalb der Stadt erreichte, stellte er dort fest, daß die Gebäude von Plünderern und Soldaten unberührt geblieben waren. Vielleicht hatte sich längst herumgesprochen, daß es hier nichts zu erbeuten gab.
    Oder es lag am Aberglauben einem Volk gegenüber, das einst in der Domäne des Unerblickten gelebt hatte; möglicherweise wagte es deshalb niemand, hier den Frieden zu stören.
    Zacharias hastete durchs Tor und wandte sich sofort den Chianculi zu. Er wollte unbedingt Pie finden, und im Hinblick darauf war er bereit, jedes Mittel zu nutzen. Doch in den Chianculi und den anderen Gebäuden in der Nähe traf er niemanden an. Daraufhin begann er mit einer systematischen Suche, die ihn durch leere Straßen führte. Seine Verzweiflung wuchs und verdrängte jede Zurückhaltung aus ihm, bis er immer wieder Pie'oh'pahs Namen rief.
    Damit bewirkte er schließlich eine Reaktion. Eine der vier Gestalten, die ihnen zuvor einen so kühlen Empfang bereitet hatten, trat ihm entgegen, und er erkannte den jungen Mann mit dem Oberlippenbart. Diesmal hielt der Eurhetemec keine Falten seines Umhangs zwischen den Zähnen und ließ sich sogar dazu herab, auf englisch zu sprechen. Doch er hielt die Seidenklinge so in der Hand, daß er jederzeit damit zuschlagen konnte - eine unmißverständliche Drohung.
    639

    »Sie sind wieder da«, sagte er.
    »Wo ist Pie?«
    »Wo ist das

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