Imagica
stehe noch. Es heißt ›Ipse‹. Von Pluthero Quexos höchstpersönlich erbaut. Ich möchte es wiedersehen.«
»Sie wollen als Tourist losziehen, in einer solchen Nacht?«
»Morgen existiert das Theater vielleicht nicht mehr. Morgen früh könnte ganz Yzordderrex eine einzige Ruine sein. Ihnen lag doch soviel daran, die Stadt zu erkunden, oder?«
»Wenn es sich um einen von Sentimentalität motivierten Ausflug handelt...«, sagte Judith. »In dem Fall sollten Sie allein gehen.«
»Steht bei Ihnen etwas anderes auf dem Programm?« fragte Dowd.
»Wie sollte so etwas möglich sein?« Jude zuckte mit den Schultern. »Immerhin bin ich zum erstenmal hier.«
Er musterte sie argwöhnisch. »Aber Sie haben sich immer eine Reise hierher gewünscht, nicht wahr? Von Anfang an.
Godolphin sah darin eine Art Besessenheit und fragte sich nach dem Grund dafür. So wie ich jetzt.« Dowd sah ebenfalls aus dem Fenster. »Was beobachten Sie, Judith?«
»Sie sehen es selbst. Wahrscheinlich werden wir erschossen, bevor wir das Ende der Straße erreichen.«
»Nein«, widersprach Dowd. »Wir nicht. Wir sind geschützt.«
»Glauben Sie?«
»Haben Sie vergessen, daß wir uns gleichen? Daß wir Partner sind?«
»Ich erinnere mich daran«, sagte Jude langsam.
»In zehn Minuten geht's los.«
»Einverstanden.«
Sie hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloß, und sah noch einmal auf ihre Hände hinab. Die Vision hatte keine Spuren hinterlassen. Mit einem Blick zur Tür vergewisserte sie sich, 635
daß Dowd wirklich gegangen war, hob anschließend die Finger zum Glas des Fensters und schloß die Augen. Ihr blieben zehn Minuten, um die Frau zu finden, die ihr gleichsah - zehn Minuten, bevor sie Dowd in das Chaos von Yzordderrex begleiten und jede Hoffnung auf einen Kontakt aufgeben mußte.
»Quaisoir...«, murmelte sie.
Das Glas unter ihren Fingerkuppen vibrierte, und über die vielen Dächer hinweg hörte sie die Schreie der Sterbenden.
Noch einmal nannte sie den Namen ihrer Doppelgängerin, konzentrierte ihre Gedanken auf die im Qualm verborgenen Türme. Jener Rauch wallte nun auch vor ihrem inneren Auge, obgleich sie ihn nicht beschworen hatte, und ihr Ich trieb in ihm, getragen von der Hitze zahlreicher Feuer.
Quaisoirs Garderobe bestand fast ausschließlich aus Dingen, die aufreizend wirken sollten, und es fiel ihr schwer, halbwegs normale Kleidung zu finden. Schließlich entschied sie sich für einen vergleichsweise schlichten Umhang und riß Schmuck und Flitter ab, um zumindest den Anschein von Schicklichkeit zu erwecken. Dann verließ sie ihre Gemächer und bereitete sich auf ihre letzte Wanderung durch den Palast vor. Sie wußte bereits, welchen Weg sie jenseits der Tore einschlagen wollte: zurück zum Hafen, wo sie den Mann der Schmerzen auf dem Dach gesehen hatte. Wenn sie Ihn dort nicht fand, so wollte sie jemanden nach Seinem Aufenthaltsort fragen. Er war bestimmt nicht nach Yzordderrex gekommen, um kurze Zeit später einfach zu verschwinden. Zweifellos hatte Er Spuren hinterlassen, auf daß ihm Seine Jünger folgen - und dabei mit Entschlossenheit und Ausdauer beweisen konnten, wie sehr sie ihn verehrten. Doch zuerst mußte Quaisoir den Palast verlassen: Sie eilte durch Korridore und über Treppen, die seit Jahrzehnten niemand mehr benutzt hatte, die nur ihr selbst, dem Autokraten und längst toten Steinmetzen bekannt waren.
Allein Maestros und ihre Frauen bewahrten sich die Jugend, 636
doch darin sah Quaisoir nun keinen Segen mehr. Sie wünschte sich Altersfalten im Gesicht, wenn sie vor dem Nazarener kniete, damit Er wußte, wie sehr sie gelitten hatte, damit Er erkannte, daß sie Sein Erbarmen verdiente. Sie mußte darauf vertrauen, daß Er durch den Schleier ihrer Schönheit sah und das Leid dahinter erkannte.
Nackte Füße empfanden die Kälte des Bodens und teilten sie dem ganzen Körper mit. Als Quaisoir nach draußen gelangte, fror sie so sehr, daß ihre Zähne klapperten. Sie verharrte eine Zeitlang, um sich in dem Labyrinth aus Gärten zu orientieren, das den Palast umgab, und als sich ihre Gedanken vom Praktischen dem Abstrakten zuwandten... hörte sie plötzlich eine Stimme, die in ihrem Hinterkopf raunte und schon seit einer ganzen Weile darauf gewartet hatte, von ihr vernommen zu werden. Sie zweifelte nicht daran, von wem das Flüstern stammte. Der Engel, von Seidux aus ihrem Schlafzimmer vertrieben... Die ganze Zeit über hatte er darauf gewartet, daß Quaisoir seinen Rat suchte, daß sie
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