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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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dem eigenen Leib aufzuhalten, sah er sein Gesicht. Zwar fehlten die Einzelheiten darin, aber er identifizierte sich auf den ersten Blick: seine 621

    Stirn, seine Augen, sein Mund, für den Atem geöffnet, der nun zerstörte und tötete.
    Das Phantom wurde nicht langsamer, traf die Brust des Schöpfers mit der gleichen Wucht wie zuvor viele andere.
    Zacharias fühlte den harten Aufprall, wurde jedoch nicht zur Seite oder zu Boden geschleudert. Die Kraft erkannte ihren Ursprung, entlud sich in Gentles Körper, stob ihm von den Fingerspitzen und prickelte in der Kopfhaut. Innerhalb eines Sekundenbruchteils war alles vorbei. Mit ausgebreiteten Armen stand er inmitten der Verheerung, während sich um ihn herum die aufgewirbelte Staubwolke legte.
    Stille folgte.
    In der Ferne stöhnten und ächzten Verwundete, und irgendwo knirschte es in einer halb eingestürzten Mauer, doch in Gentles Nähe herrschte ehrfürchtiges Schweigen. Jemand sank auf die Knie, und Zacharias glaubte zunächst, daß sich der Mann um einen Verletzten kümmern wollte. Dann hörte er, wie der Kniende immer wieder »Halleluja« murmelte und ihm die Hände entgegenstreckte. Andere Leute nahmen sich ein Beispiel an ihm, als sei ihre Rettung ein Zeichen, auf das sie alle gewartet hatten, und das nun Ergebenheit und Verehrung von ihnen verlangte.
    Erschüttert wandte Gentle den Blick von dankbaren Gesichtern ab und sah die Geile Gasse entlang. Er hatte jetzt nur noch einen Wunsch: Er wollte Pie finden und in den Armen des Mystifs Trost suchen angesichts des Wahnsinns, den er hier erlebt und selbst verursacht hatte. An den Betenden vorbei ging er über die Straße und ignorierte die nach ihm tastenden Hände, die wie beschwörend klingenden Stimmen.
    Etwas in ihm drängte danach, diese Leute wegen ihrer Naivität zu schelten - aber was hatte das für einen Sinn? Ganz gleich, was er jetzt sagte: Die Andächtigen waren sicher bereit, seine Worte als eine Art Evangelium zu empfangen, auch dann, wenn sie Tadel und Mißbilligung zum Ausdruck brachten.
    622

    Gentle schwieg, kletterte mit gesenktem Haupt über die Reste von Mauern hinweg und versuchte, nicht auf die zerfetzten Leichen zu achten. Hinter ihm erklangen Hosiannas.
    Er reagierte nicht darauf, obgleich er wußte: Man vermutete nun, daß göttliche Demut hinter seinem Gebaren steckte. Ganz gleich, wie er sich verhielt: Die von den Umständen vorbereitete Falle schnappte zu.
    Die Geile Gasse endete an einem Ruinenviertel der Stadt, und jene Kesparaten hielten zahlreiche Gefahren bereit.
    Trotzdem setzte Gentle den Weg fort. Welches Entsetzen auch immer vor ihm auf der Lauer liegen mochte - es konnte nicht annähernd so schlimm sein wie die Erinnerungen an Huzzahs Lebensreste, die im Schmutz zuckten, oder an die nach wie vor hinter ihm ertönenden Hallelujas. Die Freude der Gläubigen änderte nichts an einer wichtigen Tatsache: Er, John Furie Zacharias, war nicht nur der Retter der Geilen Gasse, sondern auch ihr Zerstörer.
    623

KAPITEL 34
l
    Die großen Säle der Chianculi hatten einst viel Freude gesehen
    - keine Clowns oder Ponys, aber Zirkusse, auf die in der Fünften Domäne jeder Schausteller neidisch gewesen wäre -, doch jetzt erinnerte nichts mehr daran. Jetzt wurde hier getrauert - und geurteilt. Vor Gericht stand der Mystif Pie'oh'pah, und die Anklage vertrat einer der wenigen Anwälte, die von den Säuberungsaktionen des Autokraten nicht aus Yzordderrex vertrieben worden waren, ein asthmatischer und verhärmter Mann namens Thes'reh'ot. Nur zwei Personen hörten ihm zu, Pie'oh'pah und die Richterin, aber er sprach laut und mit einem so großen rhetorischen Aufwand, als sei der Saal bis zum letzten Platz gefüllt. Der Mystif sei schuldig genug, um ihn gleich mehrmals zum Tode zu verurteilen, meinte er, und erwähnte in diesem Zusammenhang Feigheit und Verrat. Außerdem bezeichnete er Pie als wahrscheinlichen Spitzel. Schlimmer noch: Er hatte diese Domäne verlassen, ohne vorher die Erlaubnis von Familie und Lehrern einzuholen, was Verwandte, Freunde und viele andere um die Vorteile seiner Einzigartigkeit brachte. Ob Pie in seiner grenzenlosen Arroganz keinen Gedanken daran verschwendet hätte, daß er etwas Sakrales darstellte? Durch die Prostitution in einer anderen Welt (ausgerechnet in der Fünften! Gab es eine schlimmere Suhle banaler Seelen?) hatte er sich nicht nur am eigenen Selbst versündigt, sondern auch an seinem Volk. Rein verließ er diesen Ort und wagte es, verdorben

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