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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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dem Stuhl antwortete nicht. Seine Schreie waren längst verstummt, doch der Widerhall des Leids, noch kostbarer und verlockender als die unmittelbaren Geräusche der Pein, ließ nach wie vor die Luft erzittern. Die davon verursachten Vibrationen reichten bis zur hohen Decke empor, unter der sich manchmal Wolken formten, aus denen reinigender Regen fiel.
    Der Autokrat zog seinen eigenen Stuhl näher an den des Mannes heran. Etwas wie ein Beutel aus lebender Flüssigkeit, etwa so groß wie ein Kopf, klebte an der Brust des Hilflosen.
    Das Wesen hatte fadendünne Gliedmaßen in den Körper gebohrt und berührte dort Herz, Lungen und Leber. Diese Entität war nur der kümmerliche Rest eines einst weitaus mächtigeren Wesens namens Renunzianz; der Herrscher von Imagica hatte es aus dem In Ovo beschworen und so ausgewählt, wie sich ein Chirurg bestimmter Instrumente für eine spezielle Operation bedient. Welche Eigenschaften auch immer die beschworenen Geschöpfe besaßen: Er fürchtete sich nicht vor ihnen. Über Jahrzehnte hinweg war er mit den monströsen Spezies im In Ovo vertraut geworden, und es gab durchaus einige Wesenheiten, die er unter keinen Umständen 650

    in die Welt der Lebenden gerufen hätte. Doch die meisten be-saßen genug Verstand, um die Stimme des Herrn zu erkennen und ihr zu gehorchen. Diesem besonderen Geschöpf gab er den Namen Abelove - nach einem Anwalt, den er einmal in der Fünften Domäne kennengelernt und der Assoziationen an einen Blutsauger geweckt hatte.
    »Wie fühlt es sich an?« fragte der Autokrat und lauschte, um nichts zu überhören. »Du spürst jetzt keinen Schmerz mehr, oder? Ich habe dir nicht zuviel versprochen, wie?«
    Der Mann öffnete die Augen und befeuchtete die spröden Lippen. Sie zuckten kurz und schienen fast so etwas wie ein Lächeln anzudeuten.
    »Du bist jetzt im wahrsten Sinne des Wortes mit Abelove verbunden, nicht wahr? Das Biest hat selbst die fernsten Winkel deines Körpers erreicht. Sprich endlich - sonst nehme ich dir deinen Freund fort. Dann blutest du aus jedem Loch, das er verursacht hat. Und der damit einhergehende Schmerz wird nicht annähernd so unangenehm sein wie das Gefühl des Verlustes.«
    »Bitte nicht...«, brachte der Mann hervor.
    »Du hast nichts zu befürchten, wenn du mir antwortest«, sagte der Autokrat im Tonfall der Vernunft. »Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, ein derartiges Geschöpf zu finden? Sie sind fast ausgestorben. Trotzdem habe ich dir eines besorgt. Kann noch irgendein Zweifel an meiner Großzügigkeit bestehen? Und jetzt bitte ich dich nur darum, mir mitzuteilen, was du empfindest.«
    »Es fühlt sich... gut an.«
    »Spricht da Abelove zu mir?«
    »Wir sind eins«, erwiderte der Mann.
    »Es ist wie Sex, stimmt's?«
    »Nein.«
    »Wie Liebe?«
    »Nein. Es ist so, als sei ich noch einmal ungeboren.«
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    »Es fühlt sich an wie eine Rückkehr in den Mutterschoß?«
    »Wie eine Rückkehr in den Mutterschoß, ja.«
    »Himmel, ich beneide dich. Solche Erinnerungen fehlen mir.
    Ich bin nie in einer Gebärmutter geschwommen.«
    Der Autokrat stand auf und hob eine Hand zum Mund. So etwas erlebte er häufig, wenn gute Kreauchee seinen Einfluß auf ihn ausübte. Dann wurde er unglaublich gefühlvoll; dann genügte der geringste Anlaß, um intensive Emotionen in ihm auszulösen, deren Spektrum von tiefem Kummer bis hin zu heißem Zorn reichte.
    »Mit einer anderen Seele vereint zu sein...«, sagte er. »Untrennbar. Langsam verzehrt und gleichzeitig erneuert zu werden... Welch ein Glück!« Er drehte sich zu dem Gefangenen um, der die Augen nun wieder schloß. Der Autokrat achtete nicht darauf. »Bei solchen Gelegenheiten wünsche ich mir, ein Dichter zu sein und die richtigen Worte zu finden, um meiner Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Wenn ich wüßte, daß ich eines Tages untrennbar mit einer anderen Seele vereint sein könnte... In dem Fall wäre es mir möglich, zu einem guten, anständigen und barmherzigen Mann zu werden. Eines Tages...
    Es spielt gar keine Rolle, wie viele Jahre oder Jahrhunderte ich warten müßte...«
    Erneut nahm er neben dem Mann Platz, dessen Lider jetzt ganz nach unten gesunken waren.
    »Aber das ist unmöglich«, fuhr der Autokrat fort, und Tränen quollen ihm aus den Augen. »Wir sind viel zu sehr wir selbst. Wir lassen nicht los, was wir sind - weil wir fürchten, gar nichts zu sein. Wir klammern uns so sehr an unseren Illusionen fest, daß wir dadurch alles verlieren.« Erregung schüttelte

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